Der tausendfältige Gedanke
dich weitgehend von der Außenwelt abschirmen.« Sein herablassender Blick hätte sie vermutlich beleidigen sollen, doch es lag auch etwas Entschuldigendes darin, ein herzzerreißendes Eingeständnis.
Sie konnte es nicht ertragen.
Finsternis und trommelnder Regen.
Das Wesen lag reglos da. Der Geruch der Wächter allerdings, die die Laternen gelöscht hatten – dieser Moschusduft der Angst –, hatte es erregt.
Die Fesseln scheuerten, doch es spürte keinen Schmerz. Die Luft war empfindlich kühl geworden, aber ihm war nicht kalt.
Es wusste, dass es geopfert worden war, und kannte die Qualen, die seiner warteten, glaubte aber dennoch fraglos, der Altvater werde es nicht im Stich lassen. Es hatte lange mit seinen gefangenen Brüdern gesprochen, wusste, wie viele Wächter es bewachten, und kannte die ausgeklügelten Formulierungen, die nötig waren, um es zu besuchen. Es war verdammt und würde doch gerettet werden – zwei Gewissheiten, über die es nachdenken konnte, ohne dass sie ihm unvereinbar erschienen.
Es gab nur einen Maßstab, eine Wahrheit, und diese Wahrheit war warm, feucht und blutig. Der bloße Gedanke daran erregte es schon. Wie es in ihm drängte! Wie es sich sehnte!
Das Wesen hing im Dämmer seiner Gedanken und träumte davon, Feinde zu bespringen…
Im vereinbarten Moment riss es den Kopf hoch und ordnete benommen die Finger seines Gesichts. Reflexartig prüfte es seine Fesseln und Ketten. Metall quietschte, und Holz knarrte.
Dann schrie es in einer Tonhöhe, die das menschliche Ohr nicht wahrnehmen konnte.
»Yut mirzur!«
Schrill und schneidend tönte dieser Ruf über all die schlafenden Menschen hinweg, die sich der Feuchtigkeit und Kälte wegen in ihre Decken eingemummt hatten, und drang dorthin, wo seine Brüder wie Schakale im Regen kauerten.
»Yut-yaga mirzur!«
Zwei Worte in Aghurzoi, ihrer heiligen Sprache. »Sie glauben.«
Von Gim aus zog der Heilige Krieg durch das Hochland von Jarta. Niemand konnte die Stele an der Grenze nach Amoteu entziffern, doch sie wussten, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. In verstreuten Kolonnen schlängelten sie sich über düstere und dunstige Hänge. Ihre Waffen und Rüstungen strahlten hell im Sonnenlicht, und sie sangen dröhnende Lieder. Sie zogen durch das heilige Amoteu, und obwohl dieses Tafelland mit seinen Schieferhängen und seinen Weiden, die flach wie Seen im Talgrund lagen, genauso neu für sie war wie all die anderen Gegenden, durch die sie im Lauf der beiden harten Jahre ihres Kriegszugs gekommen waren, hatten sie doch den Eindruck, nach Hause zurückzukehren. Diese Gegend kannten sie weit besser als Xerash: seine Namen, seine Völker, seine Geschichte.
Seit ihrer Kindheit waren sie – wenn man so will – auf diesem Boden unterrichtet worden.
Am Nachmittag des nächsten Tages hatten die Leute aus Conriya das Heiligtum der Anothrite erreicht, das etwa drei Meilen von der Via Herotia entfernt lag. Sieben Männer aus Ankirioth, die unter dem Befehl von Pfalzgraf Ganyatti standen, ertranken im Gedränge derer, die in den heiligen Wassern baden wollten. Jeden Tag ritten oder schleppten sich die Inrithi über eine höhere Schwelle, die ihnen als weiterer Hinweis darauf galt, dass ihre große Mühsal dem Ende entgegenging. Bald wären sie in Besral, wo sie auf ferne Verwandte des Letzten Propheten stoßen mochten. Dann käme der Fluss Hör. Und dann…
Shimeh wirkte zum Greifen nah. Shimeh!
Die Stadt war wie ein Ruf am Horizont. Wie ein Flüstern, das in ihren Herzen zu einer mächtigen Stimme anschwoll.
Einige Tagesmärsche östlich rückte derweil der Padirajah Fanayal ab Kascamandri mit ein paar hundert Coyauri und handverlesenen Granden aus, um den Mann zur Strecke zu bringen, dem sein Volk den Namen Hurall’arkreet gegeben hatte (der in Fanayals Gegenwart freilich nicht ausgesprochen werden durfte). Da der Padirajah wusste, dass Athjeäri einen Großteil seiner Kämpfer verloren hatte, befahl er Cinganjehoi, mit vielen seiner Männer aus Eumarna durch das südliche Hochland zu reiten. Er nahm an, der flinke Graf werde die Flanke des Tigers eher umgehen, als sich zurückzuziehen, und so dem Hor unter die hufeisenförmigen Hügel folgen, die die Kianene Madas nannten, Nägel also. Dort bereitete er einen Hinterhalt vor und griff dabei – sehr zum Missfallen des Heresiarchen Seökti – auf eine ganze Einheit Cishaurim zurück, um den Sieg sicherzustellen.
Der junge Graf von Gaenri aber stand seinen Mann und trat
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