Der tausendfältige Gedanke
Wächter entgeistert sein Schwert zog. Achamian floh, ehe der Prinz antworten konnte.
Eine Zeit lang ging er durch die dunklen Gassen des Lagers, dachte daran, dass der Tau seine in Sandalen steckenden Füße schmerzen ließ, der Nagel des Himmels sich nie bewegte und die Männer des Stoßzahns alle in Kianene-Zelten schliefen und ihre Unterschiede und Traditionen auf dem langen Weg zur Erlösung wie Abfall weggeworfen hatten. Er dachte an alles und jedes, nur nicht an das, was die Keile des Wahnsinns noch tiefer treiben mochte.
Als dann der Morgen über der Verheißung Shimeh dämmerte, kehrte er zur befestigten Villa zurück. Er stieg die Hänge hinauf, ging unbehelligt durch die Tore und spazierte schließlich durch den überwucherten Garten, ohne auf die Kletten und Klauen, die sich in seinem Gewand verhedderten, oder die Nesseln zu achten, die seine Haut krebsrot werden ließen. Er wartete unterhalb der Veranda, die vor den Gemächern lag, in denen seine Frau mit dem Mann schlief, den er anbetete.
Er wartete auf den Kriegerpropheten.
Eine Lerche zwitscherte auf dem morschen Stumpf einer Zeder. Büschelschön, dessen blauviolette Blüten auf haarigen Stängeln saßen, schaukelte im Wind.
Er träumte von Golgotterath.
»Akka?«, fragte eine Stimme aus dem Nirgendwo. »Du siehst furchtbar aus.«
Achami an war sofort hellwach. Wo ist sie? Ich brauche sie!
»Sie schläft«, sagte Kellhus. »Sie hat letzte Nacht sehr gelitten… ähnlich schlimm wie du.«
Der Kriegerprophet stand über ihm. Sein flachsfarbenes Haar und sein weißes Nachthemd strahlten in der Morgensonne. Achamian blinzelte ihn an. Trotz des Barts war die Ähnlichkeit mit Nau-Cayûti, seinem alten Cousin, unübersehbar.
Achamian spürte seine Wut und Entschlossenheit bröckeln, wie es bei Kindern oft der Fall ist, die sich Vater oder Mutter gegenübersehen. Unwillkürlich zog er eine Grimasse.
»Warum?«, krächzte er. Zunächst fürchtete er, Kellhus könne ihn missverstehen und glauben, er frage nach Esmenet und seiner ungeheuerlichen Entscheidung, sie als Werkzeug zu benutzen, um die Rathgeber auszuhorchen.
»Unser Ende gibt unserem Leben keine Bedeutung, Akka. Die Art, wie Xin gestorben – «
»Nein!«, rief Achamian und sprang auf. »Warum hast du ihn nicht geheilt?«
Kellhus wirkte kurz erstaunt, doch dann war wieder alles, wie es sein sollte. Trost glitzerte in seinen Augen, und sein Lächeln zeugte von traurigem Verständnis.
In Achamians Ohren brauste es so laut, dass er von Kellhus’ Antwort nur hörte, dass sie falsch war. Die Wucht der Enthüllung war so groß, dass er regelrecht schwankte. Starke Hände stützten ihn. Kellhus packte ihn bei den Schultern und musterte sein Gesicht. Aber die Vertrautheit, die Erotik der Ehrfurcht, die all ihre Gespräche intensiviert hatte, war verschwunden. Eine kalte, herzlose Leere sprach aus Kellhus’ geliebtem Gesicht.
Wie war das möglich?
Plötzlich wusste Achamian unerklärlicherweise, dass er wach war – vielleicht zum allerersten Mal. Der Blick dieses Mannes würde ihn nicht länger zu einem unglücklichen Kind machen.
Er trat ein wenig zurück, nicht entsetzt, nur… verblüfft.
»Was bist du?«
Kellhus hielt seinem Blick stand. »Du schreckst vor mir zurück, Akka… Warum?«
»Du bist kein Prophet! Was bist du dann?«
Die Veränderung in Kellhus’ Miene war so unauffällig, dass man sie aus einiger Entfernung leicht übersehen hätte. Achamian aber bemerkte sie und stolperte entsetzt nach hinten: Selbst die kleinste Regung im Gesicht des Dunyain war erstorben.
Dann sagte er kalt wie Winterschiefer: »Ich bin die Wahrheit.«
»Die Wahrheit?« Achamian kämpfte um Fassung, doch das Grauen durchdrang ihn. Er rang nach Luft, versuchte, trotz des gleißenden Himmels etwas zu erkennen, trotz des Dröhnens etwas zu hören. »Die Wahrheit – «
Er spürte einen eisernen Griff an der Kehle. Sein Kopf wurde zurückgerissen und sein Gesicht zur Sonne gerichtet, als würde er wie eine Puppe zum Himmel gehoben. Er hatte nicht einmal gesehen, dass Kellhus sich bewegt hatte!
»Schau hin«, sagte die tote Stimme ohne jede Anspannung. Nichts von der Gewalt, die Kellhus gerade ausübte, war darin hörbar – nicht das Geringste.
Die Sonne schien ihm direkt in die Augen, und Achamian fürchtete, trotz zugekniffener Lider zu erblinden.
»Schau hin«, sagte die Stimme ohne jeden Nachdruck (wenn man von dem Finger absah, der so über seine Luftröhre strich, dass ihm Galle in den
Weitere Kostenlose Bücher