Der tausendfältige Gedanke
Licht zu schützen, das über ihm hing. »Hör zu!«
Doch es war Proyas, der mit abgespanntem Gesicht vor ihm stand und dessen ausdruckslose Miene vom Ernst der Lage zeugte.
»Es tut mir leid, alter Lehrer«, sagte der Prinz, »aber es geht um Xin… Er ruft nach dir.«
Ohne recht zu wissen, worum es ging, warf Achamian die Decken beiseite, sprang aus dem Feldbett und geriet kurz aus dem Gleichgewicht. Anders als in der Himmelsarche standen die Zeltwände des Prinzenpavillons nämlich senkrecht zum Boden. Proyas hielt ihn fest, und sie tauschten einen düsteren Blick. Lange hatte der Marschall von Attrempus nun an ihrer Grenze gestanden und die Linie bewacht, an der der Zweifel des einen mit der Gewissheit des anderen im Konflikt lag. Es wirkte furchteinflößend, einander nun ohne ihn gegenüberzustehen. Es schien eine echte menschliche Prüfung zu sein.
Sie hatten einander stets so nahegestanden, erkannte Achamian; sie hatten nur in verschiedene Richtungen gesehen. Unvermittelt ergriff er die Hand des Jüngeren. Sie war nicht warm, schien aber ungemein lebendig zu sein.
»Ich wollte dich nicht enttäuschen«, murmelte Proyas.
Achamian schluckte.
Erst wenn etwas zerbrochen war, wurde seine Bedeutung klar.
Kellhus hielt die zitternde Esmenet in den Armen.
»Ich liebe dich doch!«, rief sie. »Wirklich!«
Noch immer hallten Schreie durch die Flure. Die Hundert Säulen suchten das Gelände nach dem Mischwesen der Inchoroi ab, sie würden aber nichts finden. Bis auf Hauptmann Heörsas Tod war alles gekommen, wie Kellhus es erwartet hatte. Aurang hatte ihm nicht das Leben nehmen, sondern ihm nur die Gnosis vorenthalten wollen. Solange sie nichts über die Dunyain wussten, steckten die Rathgeber in einer Zwickmühle: Je dringlicher sie Kellhus töten mussten, desto dringlicher mussten sie ihn zugleich begreifen – und seinen Vater finden.
Deshalb war Achamian ihr Ziel gewesen, nicht Kellhus.
Der Dûnyain hatte nicht gewusst, ob Esmenet sich an ihre Verwandlung erinnern würde, doch kaum hatte sie die Augen geöffnet, war klar, dass sie sich nicht nur daran erinnerte, sondern auch glaubte, sie selbst habe geredet und gehandelt.
»Ich liebe dich doch«, wimmerte sie.
»Ja«, antwortete er, und seine Stimme reichte viel tiefer und weiter, als sie zu ahnen vermochte.
Zitternde Lippen. Augen, in denen Schrecken und Reue standen. Keuchen.
»Aber du hast es gesagt!«
»Ich habe nur gesagt, was diese Wesen hören mussten, Esmi«, log er. »Mehr nicht.«
»Du musst mir glauben!«
»Das tue ich doch, Esmi… ich glaube dir.«
Sie krallte die Finger in die Wangen und zerkratzte sie. »Warum muss ich nur immer die Hure sein?«
Er sah durch sie hindurch und über ihr verletztes Staunen hinweg auf Schläge, Misshandlungen und Enttäuschungen und auf eine überkommene Welt schierer Lust, die sich auf traditionelle Meinungen und Überzeugungen sowie religiöse Gebote stützte. Ihr Schoß hatte sie verflucht – auch wenn er sie zu dem gemacht hatte, was sie war. Frauen trugen das Versprechen der Unsterblichkeit und des Glücks zwischen ihren Schenkeln, die Aussicht auf starke Nachkommen und sexuelle Befriedigung. Da Männer das, was sie Wahrheit nannten, zur Geisel ihrer Sehnsüchte machten, wie hätten sie da versäumen sollen, ihre Frauen zu versklaven, sie wie gehortetes Gold zu verstecken, sich an ihnen wie an Melonen gütlich zu tun und sich ihrer schließlich zu entledigen wie Melonenschalen?
Bediente er sich ihrer nicht auch nur, weil er sich Söhne von ihr versprach?
Dunyain-Söhne.
Ihre verweinten Augen schimmerten im Dunkeln wie Silberlöffel. Er sah durch ihre Pupillen hindurch und entdeckte vieles, was er nie würde ungeschehen machen können.
»Halt mich fest«, flüsterte sie. »Halt mich bitte fest.«
Wie so viele leistete sie ihm Tribut. Und es fing erst an.
Achamian hatte es stets als seltsam empfunden, dass Gefühle sich oft erst im Nachhinein einstellten und selbst dann nie… angemessen zu sein schienen.
Als der Pederisk – so wurden Ordensmänner der Mandati genannt, die sich dem Aufspüren der Wenigen unter den Kindern der Insel Nron widmeten – zu ihrer armseligen Hütte gekommen war, um Achamian, den er einen »vielversprechenden« Jungen nannte, nach Atyersus mitzunehmen, hatte sein Vater ihm diesen Wunsch abgeschlagen, allerdings nicht aus Liebe, sondern (wie Achamian später erfuhr) aus pragmatischen und prinzipiellen Gründen. Achamian hatte sich auf See als
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