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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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er das so vertraute Gesicht seines Ordensbruders aufbrechen und mit gekrümmten Fingern himmelwärts greifen.
    »Ein Hautkundschafter, der hexen kann«, sagte der Vorsteher der Tausend Tempel mit vor Anstrengung verzogenem Gesicht. »Ein Hautkundschafter, der eine Seele hat.«
    Und der ehrwürdige alte Hexenmeister wurde gewahr, dass er es schon die ganze Zeit gewusst hatte.
     
     
    SHIMEH, FRÜHLING 4112
     
    Begeisterte Rufe drangen durch den donnernden Hufschlag galoppierender Reiter. Jemand stieß einen langen, tiefen Pfiff aus. Proyas brachte sein Pferd vor seinen Rittern zum Stehen. Mit einer Miene, als hätte ihn ein plötzliches Bauchweh befallen, sah er entgeistert zum östlichen Horizont.
    Zuerst kämpfte er mit einem erschreckenden Gefühl von Banalität. Seit Tagen hatte er gewusst, dass dieser Anblick gleich hinter dem Horizont lag, und er hatte sich das Unsichtbare als etwas Dunkles, Goldenes vorgestellt, als ein heiligen Schrecken erzeugendes Monument, bei dessen Anblick er sich nur in den Staub würde werfen können. Jetzt aber…
    Er spürte keinen Drang zu fallen und hatte auch sonst lediglich das Bedürfnis zu verschnaufen und zu beobachten. Als er seine Mitstreiter mit kurzen Blicken überflog, schienen sie wie Straßenräuber, die ein Opfer taxierten, oder wie Wölfe, die die Herde beobachteten, die sie auf Winter hinaus mästen würde. Er fragte sich, ob es immer so war, wenn ein Traum mit der Wirklichkeit konfrontiert wurde, aus der er geboren worden war, und vermutete, das übliche Erstaunen zu empfinden, wenn man aus weiter Ferne eine große Stadt erblickt: das Gefühl, weit weg vom Durcheinander der Bauten und Menschen zu sein, die einen bald umgeben werden. Mehr nicht.
    Die Tränen eilten seiner Begeisterung voraus. Er bemerkte sie erst, als er sie schmeckte. Als er sich die Lippen wischen wollte, zuckte seine Hand kurz vor der überraschenden Dichte und Länge seines Barts zurück. Wo war Xinemus? Er hatte doch versprochen, ihm zu beschreiben, was…
    Seine Schultern zuckten in stillem Schluchzen. Der Himmel und die Stadt schienen sich im gebrochenen Sonnenlicht zu drehen. Er klammerte sich am eisernen Knopf seines Sattels fest und fuhr mit dem Daumen über die ausgefransten Knoten, an denen sein Feldgeschirr hing.
    Schließlich räusperte er sich, blinzelte und blickte sich um. Er hörte andere weinen und sah einen sonnengebräunten Mann weiter hinten in der Phalanx der sich sammelnden Inrithi mit ausgebreiteten Armen und ohne Hemd im Gras knien und die Stadt anschreien, als offenbarte er einem tyrannischen Vater seinen Hass.
    »Gnädiger Gott aller Götter«, stimmte jemand hinter Proyas an, »der du unter uns umhergehst… Endlos sind deine heiligen Namen.«
    Die Worte schwollen zu tiefkehligem Widerhall und wurden immer unerbittlicher und gleichzeitig wohltuender, als Reiter für Reiter einstimmte. Bald schon dröhnten die Hänge vom Echo brechender Stimmen. Sie waren die Gläubigen und bewaffnet gekommen, um lange Jahrhunderte der Gottlosigkeit ungeschehen zu machen. Sie waren die leidtragenden, tiefbetrübten Männer des Stoßzahns und erblickten nun den Boden, dem zahllose verhängnisvolle Schwüre gegolten hatten… Wie viele Brüder hatten sie verloren, wie viele Väter und Söhne?
    »Möge dein Brot unseren täglichen Hunger stillen…«
    Proyas schloss sich dem Gebet an, obwohl er den Grund seiner Verwirrung begriff. Er erkannte, dass sie die Schwerter des Kriegerpropheten waren, dies aber die Stadt des Inri Sejenus war. Züge waren gemacht, Regeln verändert worden. Kellhus und sein nur knapp verhinderter Tod am Bronzering hatten alle alten Zwecke und Absichten ausgehebelt. Hier standen sie also, die Unterzeichner eines ungültig gewordenen Vertrags, und feierten das Erreichen eines Bestimmungsorts, der doch längst zu einer Zwischenstation geworden war.
    Und keiner wusste, was das bedeutete.
    »Verurteile uns nicht nach unserer Schuld…«
    Shimeh.
    »Sondern nach den Verlockungen, denen wir ausgesetzt sind…«
    Endlich Shimeh.
    Sollte diese Stadt noch nicht heilig gewesen sein, dann hatten Xinemus und all die ungezählten Toten sie nun dazu werden lassen, beschloss Proyas. Vor dem Endgültigen gab es kein Zurück.
    Die Ainoni aus Moserothu standen auf den flachen Anhöhen verstreut und sahen zu, wie ihr Pfalzgraf, der hartherzige Uranyanka, den Kriegerpropheten zum besten Aussichtspunkt führte.
    Die beiden Männer blieben neben einer uralten Mauer stehen, die zu einem von

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