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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Rachen stieg).
    »Ich kann nicht… sehen…«
    Unvermittelt fiel er mit dem Gesicht voran auf den Boden. Ehe er wieder auf den Knien war, hatte er eine Zauberformel zu murmeln begonnen. Er kannte seine Fähigkeiten und wusste, dass er Kellhus noch immer vernichten konnte.
    Aber die Stimme ließ nicht nach.
    »Heißt das etwa, die Sonne ist leer?«
    Achamian hielt inne, wandte den Blick von Gras und Geröll ab und blinzelte zu der Gestalt hoch, die über ihm aufragte.
    »Glaubst du denn«, knisterte eine fast unhörbare Stimme, »Gott sei etwas anderes als fern?«
    Achamian senkte die Stirn ins beißende Kraut. Alles drehte sich und fiel.
    »Oder lüge ich, wenn ich – da ich ganz Seele bin – den einen wähle, der die meisten Herzen verwandelt?«
    Tränen gaben ihm Antwort.
    »Oder zeugt es deiner Ansicht nach von Verrat, dass meine Absichten weiter gehen als die deinen? Dass sie deine Ziele mit umfassen?«
    Achamian drückte sich zitternd die Hände an die Ohren. Er fiel auf die Seite und schluchzte über dem harten, stachligen Boden. Der Weg war so lang und schmerzvoll, der Hunger so groß… und Inrau… und Xinemus waren tot.
    Tot.
    Wegen mir! Großer Gott …
    Der Kriegerprophet saß neben ihm, während er weinte, und hielt ihm behutsam die Hand. Mit gefühlloser Miene und geschlossenen Augen hielt er den Kopf zur Sonne gewandt.
    »Morgen«, sagte er, »marschieren wir nach Shimeh.«



13. Kapitel
     
    SHIMEH
     
     
     
    Mich ängstigt beim Reisen nicht, dass viele Menschen Gebräuche und Überzeugungen haben, die sich von den meinen deutlich unterscheiden. Nein, mich ängstigt, dass sie sie für ebenso natürlich und selbstverständlich halten wie ich die meinen.
     
    Seratantas III.: Sumnische Meditationen
     
     
    Etwas zu verstehen, das man nicht in Worte fassen kann, ist, als kehrte man an einen Ort zurück, den man nie gesehen hat.
     
    Protathis: Hundert Himmel
     
     
     
    ATYERSUS, FRÜHLING 4112
     
    Bestürzte Rufe ließen Nautzera auf die Säulenveranda der Grundlagenbibliothek hinaustreten, die hoch über den westlichen Schutzwällen von Atyersus lag und auf der die Schüler oft an milden Sonnentagen zusammenkamen. Ein paar junge Anfänger und Marmian – ein zum Studium beurlaubter Gasthörer aus ihrer Mission in Oswenta – spähten in die Ferne und deuteten auf die dunkle Meerenge. Nautzera ließ sie mit einer Handbewegung beiseite treten und lehnte sich über die Steinbalustrade. So müde seine Augen auch waren, konnte er den Grund der Aufregung doch deutlich erkennen: In der Meerenge ankerten fünfzehn gelb gestrichene Galeeren; reglos lagen sie kaum eine Meile vor der Einfahrt des an einem Steilhang gelegenen Hafens in der tiefblauen See. Ihre Banner trugen große goldene Stoßzähne.
    Atyersus geriet in Aufruhr. Hauptleute der Wachmannschaft, aber auch junge Schüler brüllten Befehle. Die Festungssoldaten stampften die schmalen Gänge entlang, um entlegene Mauern und Türme zu besetzen. Nautzera traf sich mit den übrigen Mitgliedern des Quorums auf dem Comoranth-Turm, von wo aus sie die Flotte der Eindringlinge ungestört beobachten konnten. Sie boten einen drolligen Anblick: Sieben alte Männer – zwei im Nachthemd, einer in tintenfleckiger Schreiberschürze, der Rest (wie Nautzera) in feierlicher Robe – zankten herum und gestikulierten dabei mit leberfleckigen Händen. Die meisten nahmen naheliegenderweise an, die Schiffe seien Teil einer Blockade und sollten ihre bevorstehende Abreise nach Shimeh verhindern. Aber wer waren sie? Farben und Stoßzähne deuteten auf die Tausend Tempel hin… Glaubten diese Undankbaren wirklich, sie könnten sich mit der Gnosis messen?
    Simas riet zum sofortigen Angriff. »Soweit wir wissen«, rief er, »hat die Zweite Apokalypse schon begonnen! Egal, wem diese Galeeren gehören: wir müssen annehmen, dass sie unter dem Kommando der Rathgeber stehen. Wir haben immer gewusst, dass sie versuchen würden, uns in den Anfangstagen der Apokalypse zu vernichten. Und nun, da es den Vorboten gibt, diesen sogenannten Kriegerpropheten… Denkt nach, Brüder. Würden die Rathgeber nicht alles riskieren, um zu verhindern, dass wir uns dem Heiligen Krieg anschließen? Wir müssen angreifen!«
    Doch Nautzera war nicht so unbesonnen. »In Unkenntnis der Umstände zu handeln«, kreischte er förmlich, »ist stets töricht – ob man nun im Krieg ist oder nicht!«
    Schließlich entschied die Nachricht, ein großes Boot komme ans Ufer gerudert, die Debatte. Trotz

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