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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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mehreren zerstörten Mausoleen, welche am Hang standen, gehörte und deren bröckelnder Grat dicht bewachsen und verfallen war.
    Vor ihnen erstreckte sich die Ebene von Shairizor, die vom Abbrennen der Felder und Plantagen noch verkohlt war. Der Fluss Jeshimal teilte die Ferne und wand sich wie ein Seil in die violetten und malvefarbenen Ausläufer der Betmulla-Berge. Eine große Stadt lag inmitten der Ebene und scharte sich um zwei Vorgebirge, von denen sich ein weiter Blick aufs Meneanor-Meer bot. Die weiß gekachelte Stadtmauer schimmerte im Sonnenlicht. Riesige Augen – jedes groß wie ein Baum – waren in das Rund der Befestigung gemauert und schienen sie anzustarren.
    Endlich hatten sie Shimeh – die Heilige Stadt des Letzten Propheten – erreicht.
    Einige fielen auf die Knie und weinten wie Kinder, die meisten aber starrten nur mit ausdrucksloser Miene geradeaus.
    Namen waren wie Körbe. Gewöhnlich fanden die Menschen sie schon mit Ramsch, Gegenständen des täglichen Gebrauchs oder Wertsachen gefüllt vor, doch manchmal warf der Lauf der Ereignisse sie über den Haufen, und sie mussten Dinge aufnehmen, die schwerer und finsterer waren.
    Shimeh war so ein Name.
    Aus allen vier Ecken Eärwas waren sie gekommen. Sie hatten vor Momemns Mauern gehungert und den großen Aderlass von Mengedda und Anwurat überlebt. Sie hatten Shigek mit ihrem Zorn gesäubert, waren über die brandheiße Ebene der Wüste Carathay gezogen, hatten Pest, Hunger und Aufruhr durchlitten und hätten beinahe Gottes Propheten ermordet. Nun war der Zweck all dieser Mühsal endlich erreicht.
    Für die Frommen und Rührseligen war dies ein Moment der Erfüllung. Für jene aber, die von den zahllosen Prüfungen gezeichnet waren, konnte es nur ein Augenblick des Abwägens sein. Was mochte wertvoll genug sein, ihr Leiden aufzuwiegen? Was konnte rechtfertigen, was sie sich und anderen abverlangt hatten? Dieser Ort? Diese kreideweiße Stadt?
    Shimeh?
    Auch dieser Name war über den Haufen geworfen worden, doch sie wussten nicht genau zu sagen, wo und wie.
    Aber wie stets machten die Worte des Kriegerpropheten bei ihnen die Runde.
    »Dies«, sollte er gesagt haben, »ist nicht euer Bestimmungsort, sondern eure Bestimmung.«
    Ritterscharen zogen in die Ebene hinein, während immer mehr Männer des Stoßzahns die Hänge bevölkerten. Bald stand der gesamte Heilige Krieg auf den Hügelkämmen und spähte in die Ferne. Immer wieder deuteten Männer mal da-, mal dorthin.
    Dort im Süden stand das Heiligtum von Azoreah, wo Inri Sejenus seine erste Predigt gehalten hatte. Und da lag das Hohe Rund, die große, von Triamarius II. errichtete Festung, von deren schwarzen, konzentrischen Mauern sich das Meneanor-Meer überblicken ließ. Rechts davon befand sich der Mokhal-Palast, der alte Sitz der Könige von Amoteu, mit seinem ockerfarbenen Mauerwerk und den zyklopischen Pfeilern. Und was da als Linie von den Hügeln über die Ebene von Shairizor zur Stadt lief, waren die Überreste des Skilura-Aquädukts, das seinen Namen dem gierigsten aller Herrscher Nansurs in Amoteu verdankte.
    Und dort, auf dem Juterum, auf den Heiligen Höhen also, stand der Erste Tempel, eine große, kreisförmige Säulengalerie, die den Ort bezeichnete, an dem der Letzte Prophet in den Himmel gefahren war. Und rechts davon stand mit golden gleißender Kuppel über einer Fassade mit mehreren Säulenumgängen der furchtbare Ctesarat, das Geschwulst, das sie herauszuschneiden gekommen waren: das große Gotteshaus der Cishaurim.
    Erst als die Sonne ihre Schatten bis an die Fundamente der Vieläugigen Mauer warf, verließen sie die Hänge, um unten in der Ebene ihr Lager aufzuschlagen. So groß waren ihre Verwirrung und ihr Staunen, dass in dieser Nacht nur wenige Schlaf fanden.
     
     
    AMOTEU, FRÜHLING 4112
     
    »Ich werde jeden Biaxi verbrennen«, hatte der Oberbefehlshaber – der Kaiser – gesagt, »und zwar bei lebendigem Leibe.«
    General Biaxi Sompas wurde von diesen Worten verfolgt. Würde Conphas so etwas tun? Die Antwort war klar. Der Ikurei war zu allem fähig – man musste nur einen Tag mit ihm verbringen, um das zu erfahren. Und Martemus durfte man auch nicht vergessen. Ob er es aber würde tun können, war die Frage. Der alte Xerius hätte es nie gewagt. Er hatte die Macht des Hauses Biaxi verstanden, sogar respektiert. Unter den hochadligen Familien des Landes würde es Aufruhr, womöglich einen Aufstand geben. Wenn eine Familie ausradiert würde, könnte es

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