Der tausendfältige Gedanke
unsere Worte die einzigen wahren Leidenschaften. Wir nehmen unsere armseligen Ideen zum Maßstab. Wir verdammen das Komplizierte und bejubeln sein Zerrbild. Wer sehnt sich nicht nach einer einfachen Seele – danach, ohne Anschuldigungen zu lieben, ohne Zögern zu handeln, ohne Vorbehalt zu führen?«
Er sah in tausend Augen Bestätigung aufblitzen.
»Doch so eine Seele gibt es nicht.«
Zu sprechen bedeutete, an die Saiten einer anderen Seele zu rühren. Mit rhetorischem Aufwand zu sprechen, bedeutete, ganze Akkorde anzuschlagen. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, nicht nur auf der Ebene der Bedeutungen zu reden, sondern mit seiner Stimme Leidenschaften zu entfachen.
»Widersprüchlichkeit ist es, was uns eigentlich ausmacht. Wir halten sie für eine Heimsuchung, ein Hemmnis, einen Gegner, den man besiegen muss, obwohl sie doch der Inbegriff unserer Seele ist. Hat auch nur einer von euch je reine Beweggründe gehabt? Oder wäre das nur eine weitere Lüge, um eure gierige Eitelkeit zu beschwichtigen? Gibt es irgendetwas, das ihr allein aus Liebe zu Gott getan habt?«
Erneut herrschte willenloses und betretenes Schweigen.
»Nein, in euren Herzen gibt es nichts Einfaches. Selbst die Verehrung, die ihr mir entgegenbringt, ist von Furcht, Neid und Zweifel durchwachsen… Werjau fürchtet, meine Gunst verloren zu haben, weil ich den Blick dreimal auf Gayamakri habe ruhen lassen. Gotian verzweifelt, weil er sein Leben lang nach Reinheit gestrebt hat.« Da und dort war Gelächter zu hören. »Die Schatten der Widersprüchlichkeit verdunkeln das Gesicht eines jeden von euch! Bedeutet das etwa, dass ihr unrein, böse oder unwürdig seid?«
Die letzten Worte klangen wie eine Anklage.
»Oder bedeutet es, dass ihr Menschen seid?«
Ein Windstoß war in die schweigende Menge gefahren, und die Ausdünstungen der Zuschauer wie die Düfte ihrer Parfüms drangen ihm in die Nase. Einen Moment lang hatte er den Eindruck, inmitten eines großen Kreises kauernder, ungewaschener Affen zu stehen, die ihn aus dunklen Augen verblüfft anstarrten. Dann nahm er flüchtig einen ganz anderen Kreis wahr, bei dem die Männer des Stoßzahns ihm den Rücken zugekehrt hatten und nach außen blickten, während er in der schattenhaften Mitte aller stand – unsichtbar und unvermutet…
Er kannte ihre Zauberformeln – die Worte, die sie verbrennen und ihre zyklopischen Mauern einreißen konnten. Wichtiger aber war, dass er die Worte kannte, mit denen sie zu handhaben waren und die aus dem Dunkel der Vergangenheit stammten. Er musste nur sprechen, um Menschen zum Schluchzen zu bringen oder dazu, sich die Kehle durchzuschneiden. Was bedeutete es, aus Menschen Werkzeuge zu machen? Und was machte das schon, solange sie im Namen Gottes gehandhabt wurden?
Seine Mission war das Einzige, was zählte.
»Es gibt nichts Grundlegenderes«, sagte er mit der Schwermut plötzlichen Bedauerns. »In unserer Seele ist keine unentdeckte Reinheit verborgen. Wir sind Legion, innen wie außen. Selbst unser Gott ist ein Gott sich bekriegender Götter. Wir sind widersprüchlich bis ins Mark – also wie geschaffen zum Krieg.«
Mit feuchten und zerzausten Haaren baute sich der riesige Yalgrota über seinen wilden Landsleuten auf und hob brüllend die blutbefleckte Axt. Binnen Sekunden zitterte die Luft vor Geschrei, und die gezückten Waffen warfen von allen Hängen das blendende Sonnenlicht zurück. Wohin Kellhus auch schaute, sah er geschliffene Klingen und zusammengebissene Zähne, geschwungene Fäuste und rollende Augen. Selbst Esmenet tupfte sich Tränen von den schwarz geschminkten Lidern. Nur Achamian stand abseits.
»Im Buch der Lieder«, fuhr Kellhus fort, »heißt es: ›Das Herz trägt im Krieg keine Rüstung.‹ Oder denkt an den Satz des Protathis: ›Krieg ist dort, wo die Kandare des Nebensächlichen wegfällt. ‹ Warum glaubt ihr, die einzig wahre Einfachheit, der einzige Frieden sei auf dem Schlachtfeld zu finden? Ein Hieb wird abgewehrt, ein anderer trifft; gemeinsames Gebrüll und animalischer Tanz; das Pendeln zwischen Grauen und Jubel – versteht ihr nicht? Im Krieg wird unsere Seele offenbar. Dort gilt’s, dort leben wir intensiv, dort lodern wir gleißend.«
Er hatte den Heiligen Krieg in der Hand. Die Orthodoxen waren angesichts seiner offenkundigen Göttlichkeit verschwunden. Als seine Intricati hatte Esmenet die restlichen Abweichler wirkungsvoll zum Schweigen gebracht. Conphas und der Scylvendi waren aus dem Spiel
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