Der tausendfältige Gedanke
Doch Chinjosa und Gothyelk widersprachen scharf. »Die Faulheit der Scharlachspitzen hat mich schon einen Sohn gekostet«, rief der alte Graf aus Ce Tydonn und meinte damit den Tod seines Jüngsten in Caraskand. »Ich werde nicht noch einen verlieren!«
Doch wie stets entschied der Kriegerprophet. »Wir alle marschieren gemeinsam«, sagte er. »Wer zuerst angreift und wer wo in der Schlachtordnung steht, ist nicht wichtig. Nach so viel Leid kommt es nur auf den Erfolg an… auf den Erfolg allein.«
Bis dahin beschäftigten sich die Männer des Stoßzahns mit Vorbereitungen und machten sich eifrig und singend an ihre Aufgaben. Trupps wurden in die Hügel gesandt, um Bauholz zu holen, von dem allerdings nicht viel benötigt wurde. Andere wurden an die Küste Amoteus geschickt, um möglichst viele Vorräte zu plündern. Ritter bauten tragbare Tarn- und Schutzgerüste aus Ästen und schlugen dazu die Olivenplantagen im Umkreis mehrerer Meilen bis auf die knorrigen Stämme kahl. Aufs Geratewohl wurden aus Pappeln und Palmen Leitern gezimmert. Große Steine wurden als Munition an der Küste gesammelt. Die Belagerungstürme, die bei Gerotha gebaut, auf Geheiß des Kriegerpropheten zerlegt und im Tross von gefangenen Xerashi mitgeführt worden waren, wurden wieder zusammengesetzt – teils sogar bei Dunkelheit.
Als sie spät am Abend die Glieder am Feuer ausstreckten, redeten sie lange über das Wunderliche des Ganzen, wobei ihre Worte und ihr Gebaren Erschöpfung und Jubel zeigten. Sie tauschten Berichte über das aus, was der Kriegerprophet im Rat der Hohen und Niederen Herren gesagt hatte. Und obwohl sie zum Kampf entschlossen waren, hielten viele Männer des Stoßzahns die Hast für beunruhigend, als hätten sie – wie Untreue und Unentschlossene – im Moment der Erfüllung allen Mut verloren und wollten die schwere Prüfung, die ihnen bevorstand, nur noch schnellstmöglich hinter sich bringen.
Erst als die Feuer ausgingen und nur noch echte Starrköpfe und Grübler wach blieben, wagten die Skeptiker, ihre Befürchtungen zu äußern.
»Denkt doch mal nach!«, erwiderten die Gläubigen scharf. »Wenn wir einst – umgeben von den Früchten eines langen, wagemutigen Lebens – sterben, werden wir unsere Liebsten anschauen und sagen: ›Ich kannte ihn. Ich kannte den Kriegerpropheten.‹«
14. Kapitel
SHIMEH
Einige sagen, ich hätte in jener Nacht furchtbare Dinge erfahren. Aber darüber kann ich – wie über so vieles andere – nicht schreiben, da ich befürchten muss, sonst im Schnellverfahren hingerichtet zu werden.
Drusas Achamian: Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs
Wahrheit und Hoffnung sind wie Reisende, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs sind: Sie treffen sich nur einmal im Leben.
Sprichwort der Ainoni
SHIMEH, FRÜHLING 4112
Esmenet träumte, sie sei ein Prinz, ein aus dem Dunkel gefallener Engel, dessen Herz seit Jahrtausenden geschlagen und dessen Lenden ebenso lang geschmerzt hatten. Sie träumte, Kellhus stehe vor ihr – ein Skandal, der getilgt, ein Rätsel, das seziert werden musste, vor allem aber eine brennende Frage: Wer sind die Dunyain?
Als sie erwachte, vergingen einige Momente, ehe sie sich darauf besinnen konnte, wer sie war. Sie streckte im Finstern die Hand aus, bekam aber statt Kellhus nur kalte Laken zu fassen. Das erstaunte sie nicht, beunruhigte sie aber dennoch. Ein bedrängendes Gefühl von Endgültigkeit lag in der Luft – wie der Geruch trocknender Tinte.
Kellhus?
Seit der Lektüre der Sagas hatte sie eine immer schlimmere Ahnung beschlichen, die Herz und Glieder mit auf- und ab wogender Bekümmerung und Schwere erfüllte. Die Nacht ihrer Besessenheit in der Nansur-Villa hatte diesem eher unterschwelligen Angstgefühl eine irritierende Präsenz verliehen. Kaum blinzelte sie, sah sie schon Wesen einander bespringen und besteigen. Sie spürte noch die Hände ihres Besuchers auf der Haut, und die Erinnerung an ihre ergebene Lust schien allgegenwärtig zu sein. Welcher Hunger hatte in jener Nacht von ihr Besitz ergriffen? Ein Durst, dem nur Entsetzen beikam und den kein Schrecken stillen konnte. Eine animalische und doch seltsam ferne Lüsternheit, die alle Obszönität in den Schatten gestellt hatte… und so zu etwas Reinem geworden war.
Die Inchoroi hatten sich ihrer bemächtigt, doch das Begehren, das unersättliche Verlangen, war aus ihr selbst aufgestiegen.
Zwar hatte Kellhus sie mit endlosen Fragen
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