Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
Vom Netzwerk:
bestürmt, sie aber auch trösten wollen und sich über ihre Besessenheit ähnlich geäußert wie Achamian über die Folterqualen von Xinemus. Gerade das Selbst sei es, wovon Besitz ergriffen werde. »Darum vermagst du nicht zwischen dir und deinem Besucher zu unterscheiden«, erklärte Kellhus. »Er ist einfach eine Zeit lang du gewesen. Und er wollte mich dazu bringen, dich zu töten, weil er die Erinnerungen fürchtet, die du an seine Erinnerungen haben könntest.«
    »Aber was ich da begehrt habe!«, konnte sie nur entsetzt erwidern.
    »Das waren nicht deine Sehnsüchte, Esmi. Das ist dir nur so vorgekommen, weil du nicht wusstest, woher sie kamen… Du hast sie einfach erlitten.«
    »Wie kann dann auch nur irgendein Verlangen Teil meiner selbst sein?«
    Als sie von Xinemus’ Tod erfuhr, redete sie sich ein, er sei der Grund ihrer Verzweiflung gewesen, und das überhandnehmende Gefühl von Verhängnis, das sie beschlichen hatte, sei ihrer Sorge um sein Wohlergehen entsprungen. Aber selbst diese Lüge war zu offensichtlich, und sie warf sich stundenlang vor, den Mann nicht zu betrauern, der ein so entschiedener Freund gewesen war. Als Achamian kurz darauf mit seinen Sachen aus dem Zelt des Kriegerpropheten zog, versuchte sie erneut, den frostigen Sumpf ihres Herzens in Erklärungen zu hüllen. Zwar hielt dieses Lügengebäude aus Halbwahrheiten einen Tag und eine Nacht lang, brach aber sofort zusammen, als ihr Blick auf den wahren Ursprung ihres Leidens fiel.
    Auf Shimeh.
    Dort – dachte sie, als die großen Augen der Stadt auf sie einstarrten – werden wir alle sterben.
    Mit schwirrendem Kopf warf sie die Laken beiseite und rief dem kranichbestickten Wandschirm etwas zu, hinter dem Burulan bisweilen schlief. Gleich darauf war sie angezogen und befragte Gayamakri. Der wusste nur, dass Kellhus das Zelt verlassen hatte, um durchs Lager zu streifen. Offenbar habe er sich dabei – wie der dunkeläugige Mann stirnrunzelnd berichtete – jede Begleitung verbeten.
    Vor nicht allzu langer Zeit hätte Esmenet sich noch gefürchtet, allein durchs Lager des Heiligen Kriegs zu gehen, doch inzwischen wusste sie keinen sichereren Ort. Der Mond schien hell, und von einzelnen Zeltschnüren abgesehen, die über den Weg gespannt waren, kam sie bequem voran. Die meisten Feuerstellen waren dunkel, nur in wenigen knisterte noch orangefarbene Holzkohle. Einige Unverbesserliche waren wach geblieben, prosteten einander grundlos zu oder zechten in mürrischen Zirkeln. Alle, die sie erkannten, fielen sofort auf die Knie. Keiner hatte den Kriegerpropheten gesehen.
    Dann stieß sie beinahe mit einem Mann zusammen, einem Ritter der Ainoni, wie es schien. Entsetzt erkannte sie, dass er vor ihrer… Erneuerung ein paarmal mit ihr geschlafen hatte. Bis dahin hatte sie sich stets eingeredet, sie und nicht die Freier bestimmten über ihren Beischlaf, doch sein hämisches Lächeln belehrte sie eines Besseren. Die Häme auf all ihren Mienen belehrte sie eines Besseren. Sofort begriff sie, dass er sehr stolz darauf war, die Prophetengemahlin beschlafen zu haben.
    Er packte sie an den Ellbogen und drängte sie zurück. »Ja«, sagte er, als wollte er sie in ihrer Beschämung bestärken. Er war schwer betrunken und würde keine Hemmungen haben, jeglichen Anstand fahren zu lassen.
    »Weißt du, wer ich bin?«, fragte sie scharf.
    »Ja«, wiederholte er anzüglich. »Dich kenn ich…«
    »Dann weißt du auch, wie nah du dem Tode bist.«
    Er sah sie in feuchtfröhlicher Verblüffung an. Sie holte aus und gab ihm eine Ohrfeige.
    »Unverschämter Kerl! Auf die Knie!«
    Er starrte sie nur verdutzt an und bewegte sich nicht.
    »Auf die Knie! Oder ich lass dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen… Hast du mich verstanden?«
    Es dauerte etwas, bis sein Erstaunen Entsetzen wich, und dann noch etwas, bis seine Knie nachgaben. Er schluchzte seine Entschuldigungen förmlich heraus. Und wichtiger noch: er erzählte ihr, er habe gesehen, wie Kellhus das Lager verließ und die Hänge im Westen erklomm.
    Esmenet verließ ihn und umklammerte ihre Schultern, um nicht zu zittern. Ihre zusammengebissenen Zähne verwunderten sie nicht, nur ihr Lächeln verblüffte sie. Sie überlegte, den Mann am Morgen von ihren Kundschaftern zur Strecke bringen zu lassen. Zwar hatte sie die Brutalität, die ihre neue Stellung ihr aufgezwungen hatte, stets verabscheut, doch der Gedanke an seine Schreie erregte sie. Blutige Szenarien brachten ihre Gedanken in Aufruhr, und obwohl ihr

Weitere Kostenlose Bücher