Der tausendfältige Gedanke
Schatten zu sein. Agnaras gab brüllend Befehle –
Doch sie hatte sich schon wie an einem Seil in ihre Mitte fallen lassen.
Sompas konnte nur rückwärts wanken. Ihm blieb keine Wahl…
Den Hauptmann traf es als Ersten. Er stolperte auf die Knie und hustete würgend, als sei ihm ein Hühnerknochen in die Kehle geraten. Zwei weitere fielen und pressten die Hände an schwarz glitzernde Wunden. Das Langschwert bewegte sich so schnell, dass Sompas es kaum sehen konnte.
Blondes Haar wehte wie Seide in der Dunkelheit und umflatterte ein bleiches Gesicht von ungeheurer Schönheit. Und der General begriff, dass er sie wiedererkannte… Das war doch die Frau des Prinzen aus Atrithau, deren Leichnam mit ihm am Umiaki gehangen hatte.
Sie war von ihrem Baum gestiegen.
Die Kidruhil wichen vor ihrer wirbelnden Gestalt zurück und schlugen mit ihren Klingen um sich. Sie sprang ihnen nach und stieß einem Soldaten durch die Kehle, als habe sie mit der Schwertspitze eine Orange aufgespießt. Mit einem Schrei aus der Dunkelheit attackierte der Scylvendi die Männer von der Seite und mähte sie mit weit ausholenden Hieben nieder.
Dann war es vorbei – bis auf ein Würgen, das ein Schrei gewesen sein mochte.
Ohne Hemd wandte der schweiß gebadete Scylvendi sich zu ihm und spuckte aus. Sein Körper bestand eigentlich nur aus Narben und aus Verletzungen, die zu Narben werden würden. Trotz seiner erstaunlichen Größe wirkte er dünn wie eine Vogelscheuche, als sei ihm mehr als nur Nahrung vorenthalten worden. Seine Augen funkelten unter der verletzten Stirn.
Breitbeinig stand der Barbar vor Sompas, während die schöne Frau hinter ihm kreiselte. Eine dritte Gestalt schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein und ging links neben dem Scylvendi in die Hocke – ein Mann, den Sompas nicht kannte.
Den General ergriff ein Schaudern. Er hatte noch nicht einmal sein Schwert gezogen.
»Sie hat gesehen, wie du den anderen umgebracht hast«, sagte der Scylvendi und verschmierte die Blutspritzer auf seiner Wange. »Jetzt will sie sich dich vornehmen.«
Eine warme Hand schlängelte sich um sein Genick und drückte sich an seine Wange.
In dieser Nacht erfuhr Biaxi Sompas, dass es für alles Regeln gab – auch dafür, was dem Körper passieren kann und was nicht. Das waren, wie er entdeckte, die heiligsten Regeln.
SHIMEH, FRÜHLING 4112
In der Morgendämmerung führten die Richter lange Kolonnen von Gläubigen zum Bad im Jeshimal. Viele geißelten sich mit Zweigen – ein improvisierter Bußritus. Ritterscharen schützten die Anbetenden vor Plünderern aus der Stadt, deren weiße Türme in einiger Entfernung aufragten. Doch die schwarzen Tore blieben geschlossen, und kein Heide wagte es, sie zu belästigen.
Mit nassen Haaren und leuchtendem Blick kehrten die meisten singend und in der Gewissheit, gereinigt zu sein, ins Lager zurück. Einige aber waren beunruhigt, denn die vieläugige Mauer schien sie zu verspotten. Sie nannten sie die Tatokar-Mauer, obwohl nur wenige die Bedeutung dieses Namens kannten.
Mit Kyudea, ihrer zerstörten Schwesterstadt im Nordwesten, war Shimeh der alte Sitz der Könige von Amoteu gewesen. Zu Zeiten von Inri Sejenus war die Stadt viel kleiner und umfasste nur die Höhen östlich des Jeshimal. Als Triamis I. den Inrithismus zum offiziellen Glauben des Ceneischen Reichs erklärte, hatte sich die Stadtfläche aufgrund der Pilgerströme und wegen der vielen Märkte verdoppelt. Doch anders als in Caraskand, das ein strategisch wichtiger Umschlagplatz für Karawanen, zugleich aber den Angriffen wilder Stämme aus der Wüste Carathay ausgesetzt war, hielten die Aspektkaiser es nicht für nötig, Mauern um die größere Stadt zu ziehen, da das ganze Gebiet der Drei Meere unter Ceneis strenger, aber auch glücklicher Hand lag. Selbst in der turbulenten Zeit nach dem Zusammenbruch des Reichs, also während der kurzen, durchaus strittigen Unabhängigkeit Amoteus, waren (bis auf die Heterin-Mauer um die Heiligen Höhen herum) keine Verteidigungsanlagen gebaut worden.
Erst Surmante Xatantius I. – der kriegerische Kaiser von Nansur, der für seine endlosen Kampagnen gegen Nilnamesh berühmt war – ließ die äußere Stadt ummauern und nahm dabei alte Darstellungen der durch viele Türme gekrönten Befestigungen von Mehtsonc zum Vorbild. Die weißglasierten Kacheln wurden Jahrhunderte später von den Cishaurim unter Tatokar I. hinzugefügt: Offenbar war der Heresiarch kein Freund des von Xatantius
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