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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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stand, führte er nur eine Operation im göttlichen Kalkulationsgeflecht eines anderen aus. Selbst hier bekräftigte er mit jeder Entscheidung und jeder Handlung die schaurige Absicht des Tausendfältigen Gedankens.
    Dreißig Jahre…
    Er lächelte mit sanftmütigen Augen. »Ich muss an unseren ersten Rat denken«, sagte er, »vor langer Zeit auf den Andiamin-Höhen.« Sie lächelten als Antwort auf seinen bekümmerten Blick. »Damals standen wir gut im Futter.«
    So donnernd sie daraufhin auch lachten – es klang doch seltsam persönlich, als wären sie nicht Tausende, sondern bloß Dutzende und hörten einem geschätzten Verwandten beim Erzählen uralter Witze zu. Er war ihre Achse, und sie waren sein Rad.
    »Proyas«, rief er und lächelte wie ein Vater über die geliebten Schwächen seines Sohns. »Ich weiß noch, wie Ihr unbedingt Euren Wettstreit mit Ikurei Xerius gewinnen wolltet. Ihr habt die Schwierigkeiten beklagt, die Euch immer wieder zwangen, Grundsätze der Zweckmäßigkeit, Religion der Politik zu opfern. Euer Leben lang habt Ihr nach einer Reinheit gesucht, die Ihr bisweilen kurz zu sehen, aber nie zu fassen bekamt. Euer Leben lang habt Ihr einen kühnen Gott ersehnt – keinen, der sich in Schreibstuben herumdrückt und Geisteskranken das Unhörbare zuraunt.«
    Und jetzt schimpfst du über die alten Verhältnisse und betrauerst zugleich, und viele Opfer es gekostet hat, neue Verhältnisse herbeizuführen.
    Er sah den Grafen von Agansanor an, der wie ein Jugendlicher dasaß und die Knie mit kräftigen Armen umschlossen hielt. »Gothyelk, Ihr hattet nur den Wunsch, als einer, der von seinen Sünden freigesprochen ist, zu sterben. Das Wasser Eures Lebens drohte zu versiegen, und es schien, als schmecktet Ihr nur mehr das Salz Eurer Sünden. Welcher alte Adelskrieger würde da nicht seine Untaten zu zählen beginnen? Im Rückblick auf Euer Leben seid Ihr zu der Ansicht gelangt, so viele Sünden angehäuft zu haben, dass nur Euer Blut die Waage der Erlösung zu Euren Gunsten ausschlagen lassen könnte.«
    Und nun, da du glaubst, ich hielte meinen Finger an die Waage, unterstehst du dich, von einem stillen Tod zu träumen.
    »Und Gotian, gütiger Gotian – Ihr habt Euch nur nach geistiger Führung gesehnt, und zwar nicht aus dem niedrigen Wunsch, vor einem anderen im Staub zu kriechen, sondern um Euer Leben in die gottgefällige Form zu bringen. Trotz Eurer Macht und Eures Ansehens setzte die Unwissenheit Euch immer wieder zu. Anders als so viele andere vermochtet Ihr Euch nicht mit nur vorgetäuschtem Wissen zu trösten.«
    Ich bin deine Richtschnur und deine Offenbarung geworden – der Inbegriff der Gewissheit, nach der du suchtest.
    Diese Übung war ihm zur Gewohnheit geworden: Indem er einigen die Wahrheit ins Gesicht sagte, gab er ihnen allen das Gefühl, durchschaut zu sein und beobachtet zu werden.
    »Jeder von euch«, fuhr er fort und ließ den Blick über die Versammlung schweifen, »hatte seine Gründe, sich dem Heiligen Krieg anzuschließen. Einige kamen, um zu erobern, andere, um zu büßen, manche, um zu prahlen, zu rächen oder zu fliehen… Doch ich frage mich, ob einer von euch sagen kann, er sei allein wegen Shimeh gekommen?«
    Einige Augenblicke lang hörte er nur das Durcheinander ihres Herzschlags. Ihre Brustkörbe schienen zehntausend Trommeln zu sein.
    »Gibt es wirklich keinen Einzigen?«
    Was er hier schmiedete, musste vollkommen sein. Die Worte des Alten, der ihn in Gim angesprochen hatte, waren eindeutig gewesen. Die Segel der Mandati-Flotte konnten nun jeden Tag auftauchen, und die gnostischen Ordensmänner würden sich ihren Krieg nicht einfach so aus der Hand nehmen lassen. Vor ihrer Ankunft musste alles vollendet sein und unvermeidlich erscheinen. Wenn sie an dem Geschehen, dessen Zeugen sie wurden, nicht beteiligt wären, würden sie entsprechend zögernder darangehen, ihre Forderungen voranzutreiben. »Euer Vater lässt Euch ausrichten«, hatte der blinde Eremit gesagt, ›»Es steht nur ein Baum in Kyudea…‹«
    Ob die Männer des Stoßzahns aber ohne ihn obsiegen konnten?
    »Keiner von euch!«, rief er mit einer Stimme, die sie traf wie der Pfeil einer Armbrust. »Keiner von euch ist nur wegen Shimeh gekommen, denn ihr seid Menschen, und das menschliche Herz ist nicht einfach.« Er blickte von Gesicht zu Gesicht und forderte sie auf, das Offenkundige zu sehen. »Unsere Leidenschaften sind ein Sumpf, und weil uns die Worte fehlen, sie zu benennen, tun wir, als wären

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