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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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genommen…
    Nur Achamian wagte es noch, ihn sorgenvoll anzusehen.
    »Morgen werdet ihr über die Letzten eines verruchten Volks herfallen. Morgen werdet ihr das Haus meines Bruders ihrer lästerlichen Wut entreißen.« Er sah Nersei Proyas an. »Morgen werdet ihr die Waffen gegen Shimeh erheben! Und ich, der Prophet des Krieges, werde euer Preis sein!«
    Monatelang hatte er sie nun ausgebildet und sie Winke gelehrt, auf die sie unwillkürlich reagierten. Sie wussten, wann sie zu sprechen, wann zu schweigen hatten, wann sie aufschreien, wann den Atem anhalten sollten.
    »Aber Meistgesegneter!«, rief Proyas und verwendete damit eine der vielen Ehrbezeichnungen, die er und andere sich ausgedacht hatten. »Ihr sprecht, als ob…« Er runzelte arglos die Stirn. »Werdet Ihr den Angriff denn nicht anführen?«
    Kellhus lächelte, als habe man ihn dabei ertappt, wie er ein ruhmreiches Geheimnis zurückhielt.
    »Jeder Bruder ist ein Sohn… und jeder Sohn muss erst das Haus seines Vaters besuchen.«
    Wieder dieser Blick von Achamian. Wieder die Notwendigkeit, seine endlosen Bedenken zu zerstreuen.
     
     
    Die auf den Hängen oberhalb des Lagers versammelten Herren des Heiligen Kriegs waren einmütig dafür, Shimeh anzugreifen. Die Heilige Stadt auszuhungern, um ihre Verteidiger – ob Ordensleute oder sonstige Einwohner – zum Kampf vor den Mauern zu zwingen, kam nicht infrage. Die Inrithi waren nicht mehr zahlreich genug, um Shimeh zu umstellen: Jeder entschlossene heidnische Ausfall könnte den Belagerungsring durchbrechen. Und obwohl Shimehs Hafen wegen der Nachlässigkeit der Kianene-Herren versandet war, konnte über See noch immer Nachschub eintreffen.
    Strittig waren allein die Forderung des Kriegerpropheten, die Stadt schon am nächsten Morgen anzugreifen, und die bestürzende Enthüllung, dass er sie nicht anführen würde. Zu Letzterem wollte er sich nicht äußern, aber zu Ersterem sagte er: »Wir greifen einen Feind an, der sich noch nicht von seiner Niederlage erholt hat, obwohl er noch recht zahlreich ist. Aber nun, da wir angekommen sind… Denkt daran, was ihr erfahren habt: Im Angesicht des Feindes schmiedet die Zeit die Herzen der Männer zusammen. Gewissheit und Rechtschaffenheit lassen mich also fordern, ihr solltet möglichst rasch zuschlagen!«
    Tags zuvor hatten Spähtrupps die Hügel ringsum durchkämmt und nach einer Spur von Fanayal und dem neu versammelten Heer der Fanim Ausschau gehalten. Die Amoti waren in aller Regel ahnungslos, und die Kianene, die sie gefangen nahmen, erzählten mehr oder weniger absonderliche Geschichten: Cinganjehoi, der Tiger von Eumarna, warte in den Betmulla-Bergen und sei bereit, jeden Moment über sie herzufallen; die Flotte der Kianene, die nur scheinbar vernichtet worden sei, habe die Küste von Xerash angelaufen und eine Armee an Land gesetzt, die sich momentan in ihrem Rücken nähere; Fanayal habe einen Massenexodus befohlen und ziehe sich mit den Cishaurim in die große Stadt Seleukara zurück; die gesamte Armee von Kian liege in Shimeh wie eine Schlange im Korb und sei bereit loszuschlagen, sobald die Inrithi den Deckel höben…
    Egal, um welche Geschichte es sich handelte: den Götzendienern wurde entweder Sieg oder Untergang prophezeit.
    Die Hohen Herren waren sich darin einig, dass keine dieser Geschichten stimmte. Der Kriegerprophet war anderer Ansicht und wies darauf hin, alle Gefangenen hätten das gleiche halbe Dutzend Geschichten wiederholt. »Fanayal hat diese Gerüchte in die Welt gesetzt«, sagte er. »Er macht Lärm, um die Wahrheit zu verdunkeln.« Er mahnte sie, sich zu vergegenwärtigen, wer gegen sie kämpfte. »Vergesst nicht seinen Wagemut auf den Schlachtfeldern von Mengedda und Anwurat. Fanayal mag der Sohn von Kascamandri sein, aber er ist ein Schüler von Skauras.«
    Man beschloss, zunächst nur Shimehs Westmauern anzugreifen, und zwar nicht nur, weil das Lager im Westen der Stadt lag, sondern auch, weil das Juterum am Westufer des Jeshimal lag und sich alle darin einig waren, dass daher die Heiligen Höhen ihr erstes Ziel sein mussten. Solange die Cishaurim unbesiegt blieben, war nämlich – wie ihnen klar war – alles weitere in Gefahr.
    Proyas und Gotian flehten den Gesegneten nun geradezu an, den Angriff vor den Scharlachspitzen anführen zu dürfen. Obwohl der Stoßzahn die Hexenkunst inzwischen nicht mehr verurteilte, war ihnen der Gedanke, Hexenmeister könnten als Erste den Fuß in die Heilige Stadt setzen, noch immer zuwider.

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