Der tausendfältige Gedanke
verwendeten Steins gewesen. Die gewaltigen Augen gingen auf Tatokars Nachfolger zurück, den berühmten Dichter Hahkti ab Sibban. Als ein Würdenträger der Ainoni, der in Shimeh zu Besuch war, ihn nach einer Erklärung fragte, soll er gesagt haben, die Augen seien dazu da, die Götzendiener daran zu erinnern, dass »der Einzige Gott nicht blinzelt«. Sie waren also dazu gedacht, sie zu beschämen. Dennoch waren die Pilger der Inrithi wegen der Versandung des Hafens gezwungen, Shimeh von der Landseite her durch ebendiese Tore zu betreten.
Ungeachtet dieser Vorgeschichte waren die Augen das Thema endloser Debatten unter den Männern des Stoßzahns. Manchmal schienen sie mit freundlicher Neugier zu glotzen, manchmal in fast rasender Wut zu funkeln. Je länger die Inrithi über sie nachdachten, desto mehr nahm Shimeh die Aura eines Lebewesens an, bis die Stadt ein großes, unergründliches Ungeheuer zu sein schien, eine gewaltige, altersschwache Krabbe, die aus der Tiefe gekrochen war und sich an Land sonnte. Das machte aber die Aussichten, die Stadt einzunehmen… unsicher.
Wer wusste schon, wozu dieses Lebewesen imstande war?
Wo es einst viele Stimmen und Willensrichtungen gegeben hatte, gab es jetzt nur noch eine. Mit dem Logos hatte er gesät, und mit dem Logos würde er nun ernten.
Bald, Vater, bald werde ich dich treffen.
Kellhus wandte sich von Esmenet ab und streckte die strahlenden Hände aus. Die gewaltige Versammlung verstummte. Stunden zuvor hatte er Boten entsandt, die einen letzten Rat der Hohen und Niederen Herren auf den Hängen oberhalb des wimmelnden Lagers angekündigt hatten. Wie erwartet, waren längst nicht nur Adlige seinem Aufruf gefolgt. Gut die Hälfte des Heiligen Kriegs war auf dem Hang vor ihm versammelt, saß auf dem Hügelkamm oder hockte wie Krähen auf den Mauern der zerstörten Mausoleen.
Er stand auf halber Höhe des Hangs, sodass es für die weiter oben Sitzenden aussah, als umgebe Shimeh seinen Kopf und seine Schultern wie ein Heiligenschein. Die Hohen Herren des Heiligen Kriegs saßen auf einer rechteckigen Fläche unmittelbar vor ihm im Gras. Ihr Blick war ungestüm und zurückhaltend zugleich und zeugte von einer Begeisterung, die dem Hexenkessel, der sie erwartete, trotzdem mit Bedenken entgegensah. Zu ihrer Rechten bildeten die Nascenti die Südküste des Gesichtermeers, das sich hinter ihnen erhob. Sie standen mit unsicherem Stolz steif da und taten ihr Bestes, um den Eindruck zu erwecken, sie allein wüssten, was geschehen würde. Eleäzaras, Iyokus und ein paar andere Ordensmänner der Scharlachspitzen standen an der Küste gegenüber und blickten vor Sorge ausdruckslos drein. Kellhus sah, wie Eleäzaras sich lauschend zum bandagierten Iyokus neigte. Der Blick des Hochmeisters sprang kurz auf Achamian, der – wie üblich – links vom Kriegerpropheten stand.
»Ich drehe mich um«, rief Kellhus, »und sehe euch zu Tausenden – euch, die ihr der Heilige Krieg seid, der große Stamm der Wahrheit.
Doch ich sehe noch Abertausende mehr, die die Ebenen und Hänge in glitzernden Formationen füllen… Ich sehe die Geister der Gefallenen zwischen uns stehen und mit Stolz auf jene schauen, die ihr schmerzliches Opfer gutmachen…«
Es durfte kein Vergessen geben. Für diesen Augenblick hatten sie mit Angst und Blut bezahlt.
»… und das Haus meines Bruders zurückgewinnen werden.«
Die letzten drei Jahre, seit er aus dem Gelbbraunen Tor von Ishuäl getreten war, standen ihm genau vor Augen. Zahllose Pfade hatten vor seinen Füßen gelegen und zu zahllosen Möglichkeiten geführt. Doch anders als ein Baum vermochte er sich nur in eine Richtung auszudehnen. Mit jedem Schritt hatte er Alternativen zunichte gemacht, Zukunft für Zukunft einstürzen lassen und eine Linie beschritten, die zu dünn war, um auf einer Karte verzeichnet zu werden. Die ganze Zeit hatte er geglaubt, diese Linie, dieser Pfad gehöre zu ihm, als wäre jeder seiner Schritte eine ungeheure Entscheidung, für die nur er zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Schritt für Schritt hatte er eine mögliche Welt nach der anderen vernichtet und gerungen, bis einzig dieser Moment übriggeblieben war…
Aber seine Zukunftsalternativen waren, wie er nun wusste, schon viel früher erstickt worden. Der Boden, den er bereiste, war bereitet gewesen. Bei jeder Biegung waren die Wahrscheinlichkeiten berechnet, die Möglichkeiten abgeschätzt, die Abzweigungen vorbestimmt gewesen… Selbst jetzt, da er vor Shimeh
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