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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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klar war, wie gemein und unsinnig sie waren, genoss sie sie doch.
    Woran lag das? An ihrer Scham? An seinem hämischen Lächeln? Oder bloß daran, dass sie diese Dinge anordnen konnte?
    Ich bin sein Werkzeug, dachte sie atemlos.
    In ihre Sorgen versunken, stieg sie den flachen Hang hinauf. Als sie durch Disteln und feuchtes Gras stapfte, tat es ihr um den Saum ihres Kleides leid. Hoch über dem Meneanor-Meer blitzte der Nagel des Himmels am nächtlichen Firmament. Zweimal drehte sie sich um und musterte das im Mondlicht liegende Shimeh.
    Die Stadt wirkte fast unwirklich.
    Sie entdeckte Kellhus zwischen den Trümmern eines der vielen Mausoleen am Hang. Er hockte da und sah aufmerksam über die Shairizor-Ebene nach Shimeh hinüber. Sie überlegte, ob sie auf den eingestürzten Teil klettern und dann die Mauer wie einen Steg entlanglaufen sollte, besann sich aber auf ihre Schwangerschaft und schritt stattdessen zu den bemoosten Grundmauern unter ihm. Er saß mit gekreuzten Beinen da und hatte die nach oben gewandten Handflächen im Schoß zusammengelegt. Das Haar trug er zu einem Kriegsknoten nach Art der Galeoth gebunden. In seinem lockigen Bart schimmerte das Mondlicht und ließ sein Gesicht marmorn wirken. Wie immer hatte seine Haltung oder seine Art etwas Unbestimmbares, das seine Umgebung winzig erscheinen ließ. Wo andere einsam, ja elend wirken mussten, erschien er als unerschütterlicher Wachposten, dessen mondbeschienene Seite hell leuchtete, während die andere Seite tiefschwarz war.
    Ohne den Blick von Shimeh zu wenden, sagte er: »Du denkst an Caraskand – daran, wie ich mich dir vor den Ereignissen, die mich an den Umiaki führten, entzogen habe. Und du fürchtest, ich würde das aus ähnlich gefährlichen Gründen wieder tun.«
    Sie stemmte die Hände in die Hüften, sah zu ihm hoch und zog in gespielter Missbilligung eine finstere Miene. »Ich versuche, mich zu beherrschen.«
    Er lächelte. Seine Augen glitzerten, als er hinunterschaute.
    »Warum tust du das?«, fragte sie.
    »Weil ich bald gehen muss.« Er streckte ihr die Hand entgegen.
    Sie nahm sie und stand unvermittelt – von seinen starken Armen emporgehoben – neben ihm. Einen Moment lang schien es, als befänden sie sich auf einer Nadelspitze. Sie blickte nervös auf die abfallenden Hänge und auf die Schwärze zwischen den schlanken Pappeln, die im eingestürzten Mausoleum wuchsen, und atmete seinen Geruch nach Orangen, Zimt und Schweiß tief ein. Trotz der Angst, die seine Worte in ihr wachgerufen hatten, genoss sie wie stets seine Gegenwart.
    Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück, um ihm besser in die Augen sehen zu können. »Wohin gehst du?«
    Er musterte sie kurz. In der Ferne hinter ihm wirkte Shimeh verwinkelt und steinalt – wie ein Fossil, das vom Strom der Gezeiten freigespült worden war.
    »Nach Kyudea.«
    Esmenet zog ein finsteres Gesicht. Kyudea – Shimehs tote Schwesterstadt – war vor langer Zeit von einem ceneischen Aspektkaiser zerstört worden, dessen Name ihr entfallen war. »Ins Haus deines Vaters«, sagte sie verdrossen.
    »Wahrheit hat ihre Zeit, Esmi. Alles wird rechtzeitig geklärt werden.«
    »Aber, Kellhus…« Warum mussten sie Shimeh ohne ihn angreifen?
    »Proyas weiß, was zu tun ist, und die Scharlachspitzen werden handeln, wie sie es für angebracht halten«, sagte er bestimmt.
    Verzweiflung stieg in ihr auf. Du darfst uns nicht verlassen!
    »Ich muss, Esmi. Ich höre auf eine andere Stimme.«
    Nicht auf ihre Stimme also, begriff etwas Zartes in ihr. Aber schließlich achtete er auch nicht auf ihre Sitten, Sorgen oder gar Hoffnungen… Was ihr wichtig war, berührte ihn einfach nicht. Obwohl sie zusammenstanden, befanden Kellhus’ Füße sich auf weit unergründlicherem Boden. Was ihn bewegte, geschah im Maßstab der Planeten und ihrer Umlaufbahnen am Nachthimmel.
    Plötzlich kam er ihr wie ein Wildfremder vor, wie der Scylvendi… Der Sohn von etwas Furchtbarem.
    »Und was ist mit Akka?«, fragte sie schnell und hoffte, ihren Moment der Schwäche dadurch zu verbergen. »Sollte er dich nicht begleiten?«
    Du musst in Sicherheit bleiben!
    »Wohin ich gehe, kann mir niemand folgen«, sagte er. »Außerdem befinde ich mich jenseits seines Schutzes, und das weiß er inzwischen.« So bedrückend die Tragweite seiner Worte war – er hatte sie mit nüchterner Leichtigkeit ausgesprochen.
    »Er wird wissen wollen, wohin du gegangen bist.«
    Kellhus nickte lächelnd, wie um zu sagen: Dieser Akka! »Er weiß

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