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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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auf dem Wasser, das die beiden trennte wie ein halbdurchsichtiger Vorhang.
    »Es liegt in ihrer Natur zu glauben, was ihre Väter glaubten«, fuhr die Stimme aus der Dunkelheit fort. »Zu begehren, was ihre Väter begehrten… Menschen sind wie Wachs, das gegossen wird: Ihre Seelen werden durch die Umstände geformt. Warum bekommen Inrithi keine Fanim-Kinder und Fanim keine Inrithi-Kinder? Weil solche Wahrheiten gemacht werden und durch die jeweiligen Umstände bedingt sind. Zieh ein Kleinkind unter Fanim auf, und es wird ein Fanim. Zieh es unter Inrithi auf, und es wird ein Inrithi… Und wenn du es in zwei Teile teilst, wird es das nicht überleben.«
    Unvermittelt tauchte das Gesicht wieder aus dem Schatten auf, doch durch das Wasser hindurch konnte Kellhus nichts Genaues ausmachen. Nur die dunklen Augenhöhlen fielen ihm auf. Sein Vater schien sich wie zufällig vorgebeugt zu haben – womöglich, um sich durch den Stellungswechsel von einem wandernden Schmerz zu befreien –, doch Kellhus wusste, dass alles vorherbedacht war. Trotz all der Veränderungen, die von dreißig Jahren in der Wildnis herrühren mochten, war sein Vater Dunyain geblieben…
    Und das bedeutete, dass Kellhus auf bereitetem Boden stand.
    »Aber es entgeht ihnen, obwohl es so offensichtlich ist«, fuhr das verschwommene Gesicht fort. »Da sie nicht erkennen können, was vor ihnen da war, glauben sie, es sei nichts gewesen. Nichts. Sie spüren die Umstände nicht, die auf sie einwirken, und merken nicht, wie sie durch diese Umstände geprägt werden. Was ihnen eingebläut wurde, erscheint ihnen frei gewählt.
    So halten sie gedankenlos an ihren unmittelbaren Erfahrungen fest und verfluchen jeden, der Fragen zu stellen wagt. Sie machen Unwissenheit zur Grundlage ihres Lebens und halten ihre engstirnige Prägung für die absolute Wahrheit.«
    Er hob ein Tuch und drückte es in seine Augenhöhlen. Als er es senkte, waren zwei rosafarbene Flecke auf dem hellen Stoff zu sehen. Das Gesicht glitt in die undurchdringliche Dunkelheit zurück.
    »Und doch fürchten sie sich. Denn selbst Ungläubige teilen die Tiefe ihrer Überzeugung. Ringsum sehen sie Beispiele ihrer Selbsttäuschung… ›Ich!‹, rufen alle. ›Ich bin auserwählt!‹ Wie sollten sie sich nicht fürchten, da sie so sehr Kindern ähneln, die trotzig mit dem Fuß aufstampfen? Also umgeben sie sich mit Jasagern und suchen am Horizont nach Bestätigung, nach einem höheren Zeichen dafür, dass sie für die Welt so wichtig sind wie für sich selbst.«
    Er streckte die Hand aus und legte sie an seine nackte Brust. »Und sie bezahlen mit der Münze ihrer Ergebenheit.«
     
     
    »Und was ist mit dir, Akka?«, fragte Esmenet schneidend. »Hast du ihm deine kostbare Gnosis nicht so bereitwillig überlassen, wie ich ihm meinen Schoß geöffnet habe?« Warum konnte sie ihn nicht einfach hassen, diesen langweiligen und gebrochenen Hexenmeister? Dann wäre alles so viel leichter.
    Achamian räusperte sich. »Ja… ja, das habe ich…«
    »Und warum, Heiliger Tutor? Warum hat ein Ordensmann der Mandati etwas so Unvorstellbares getan?«
    »Weil die Zweite Apokalypse… Sie kommt…«
    »Die Welt steht auf dem Spiel, und du beklagst dich darüber, dass er aus allem Waffen macht? Akka, du solltest jubeln.«
    »Ich sage nicht, er sei nicht der Vorbote! Nach allem, was ich weiß, mag er sogar ein Prophet sein…«
    »Was sagst du da, Akka? Was weißt du überhaupt?«
    Zwei Tränen liefen ihm über die Wangen.
    »Dass er dich mir gestohlen hat! Gestohlen!«
    »Hat er dir deine Trophäe geraubt, ja?«
    »So ist es nicht.«
    »Ach nein? Du liebst mich, Akka, ja, aber ich bin nie mehr für dich gewesen als eine – «
    »Du denkst einfach nicht! Du siehst nur deine Liebe für ihn. Du denkst nicht darüber nach, was er sieht, wenn er dich anschaut.«
    Ein Moment stillen Entsetzens.
    »Aber er lügt! Der Scylvendi lügt! Ich bin eine Nansur. Ich weiß – «
    »Sag es mir, Esmi! Sag mir, was er sieht!«
    Sie zitterte. Warum? Die Erde unter ihren Knien schien doch wie Stein zu sein.
    »Die Wahrheit«, murmelte sie. »Er sieht die Wahrheit!«
    Irgendwie hatte er sie auf die Beine gezogen. Sie umklammerte ihn, schluchzte und jammerte an seiner Schulter.
    Er flüsterte ihr ins Ohr: »Er sieht nicht, Esmi – er beobachtet nur…«
    Und die Worte standen im Raum, betäubend und unausgesprochen:… und zwar ohne Liebe.
    Sie blickte zu ihm hoch, und er sah sie mit einer Intensität und Verzweiflung an, die sie –

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