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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Formeln ließ jede Einheit flackernde Schatten hinter sich. Sie erstiegen verrußte Steinrampen und Hügel aus zerbrochenen Ziegeln und führten von dort aus weitere Verwüstungen herbei. Steine flogen gen Himmel und zogen Rauchfahnen hinter sich her. Simse und Pfeiler stürzten ein und verschwanden unter den dunklen Rauchschwaden der Zerstörung. Die Welt schien nur noch aus Blutrot und Tiefschwarz zu bestehen. Sie schritten über zischende Glieder hinweg.
    Zwischen lodernden Flammen und riesigen Rauchwänden rückten der Erste Tempel und der Ctesarat immer näher, bis sie schließlich den ganzen Horizont einnahmen. Wieder und wieder riefen die Scharlachspitzen zerstörerische Formeln, doch niemand trat ihnen entgegen.
    Die Fanim nahmen vor ihnen Reißaus wie Tiere, die sich vor dem Feuer fürchten.
     
     
    Nur der Himmel bot ihnen Aufschub, eine kurze Gnadenfrist vor den Stacheln des irdischen Getümmels. Mit glühenden Augen betrachteten sie die dunkle Krümmung der Welt. Die Sonne loderte weiß und übernatürlich hell. Gewitterwolken trieben unter ihr dahin und verloren sich in der Ferne. Sie sahen fahle Küstenlinien und riesige Gebiete in verblichenem Ocker und Blau, reckten sich in wohliger Überheblichkeit und schlugen die mächtigen Flügel.
    Zioz, Setmahaga, Sohorat…
    Dann rief sie die Stimme, die vor Qual und Tadel ganz rau klang. Synchron legten die drei den plumpen Kopf zurück, heulten die dunkelblaue Leere an und tauchten wieder in die düsteren Wolken ein. Rauch brannte in ihren Augen, die niemals weinen konnten.
    Wie Steine fielen sie aus der Wolkendecke über Shimeh.
    Von den Gebieten abgesehen, in denen Brände tobten, lag die Stadt im Dunkeln. Sie witterten die Sterblichen, die schändend, mordend und kämpfend durch die finsteren Straßen sprangen.
    Am liebsten hätten sie das alles verschlungen.
    Aber die Stimme! Diese Stimme, die wie Nadeln stach und quälender war als die Million Zähne der Welt ringsum!
    Sie glitten ins Herz der Stadt und ließen sich nacheinander auf dem Dachvorsprung des Ersten Tempels nieder.
    Die Stimme war damit einverstanden.
    Sie drückten sich wie Käfer ans Schieferdach und witterten die Augenlosen, die im Tempel warteten.
    Fallt über sie her! kreischte die Stimme. Reißt sie in Stücke! Nur in ihrer Mitte seid ihr vor den Chorae sicher!
    Sie zerbrachen Schindeln, rissen Dachlatten beiseite, wuchteten Architrave von den Säulen und ließen sich mit dem einstürzenden Dach in den Tempel fallen. Zwölf safrangelb gekleidete Männer, von deren Stirnen blaues Licht blitzte, schlichen um sie herum. Mächtige Energiebögen umgaben ihre weiß glühenden Schutzwälle.
    Sohorat brüllte, und im Säulenwald rieselte der Mörtel. Fliegen stoben aus seinem Rachen. Rasende Wölfe sprangen ihm aus den Handflächen, zerstörten die gleißenden Schutzwälle und verschlangen die, die sich darunter duckten. Zioz strich brennende Fäden in seine Faust und riss die Seelen aus ihrem Fleisch. Setmahaga schlug schwache Schutzwälle beiseite, hieb Köpfe ab und genoss, wie ihm das Blut über die Glieder lief. Seine Begeisterung war so groß, dass er wie tausend Schweine quiekte.
    »Dämon!«, tönte eine Stimme wie ein Donnerschlag.
    Sie wandten sich vom blutbedeckten Marmor ab und sahen einen alten, augenlosen Mann aus dem rückwärtigen Teil des Tempels kommen. Etwas, das an einen gestohlenen Stern denken ließ, blitzte von seiner Stirn. Weitere Blinde strömten zwischen den Säulen links und rechts hervor.
    Flieh, flüsterte die Stimme in seinem Innern.
    Setmahaga starb als Erster. Ein an einem Stock befestigtes Chorum traf ihn ins Auge, verwandelte ihn in Salz und ließ ihn zerplatzen.
    Flieh!
    Dann schrie Sohorat, als ein Lichtschwall seine geifernde Gestalt traf.
    Zioz schwang sich in die Wolken auf.
    Gib mich zurück, Erdenwurm! Befrei mich von diesen Ketten!
    Doch der Ordensmann der Scharlachspitzen war unerbittlich.
    Eine letzte Aufgabe habe ich noch für dich…
    Überall Wasser. Mal stürzte es in tosenden Katarakten herab, mal fiel es in einzelnen Tropfen, mal strömte es wie ein Schleier aus dem Mund einer riesigen Bronzefigur. Kellhus blieb bei einem glimmenden Kohlenbecken stehen, spähte unter das Antlitz, das orangefarben und finster über seinem Vater aufragte, und sah, wie Moënghus sich in den tiefen Schatten zurücklehnte.
    »Du hast die Welt kennengelernt«, sagten unsichtbare Lippen, »und gesehen, dass die Menschen wie Kinder sind.«
    Strahlende Linien tanzten

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