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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Götzendiener! Anscheinend konnte niemand ihnen standhalten. Wo war der Padirajah? Wo waren seine Hüter? Und seine Granden mit ihren prächtigen Pferden? Und die Wasserträger? Wo waren sie alle?
    Rauch trieb über Shimehs Westen. Asche rieselte herab wie Schnee. Da und dort wurden Scharen völlig verschreckter Amoti von den Leuten aus Conriya gestellt, die ihre ausdruckslosen Silbermasken vors Gesicht gezogen hatten. Die Gefechte waren so kurz wie verheerend. Manche liefen in Landsleute hinein, die in die Gegenrichtung flohen. Atemlos wurden Worte des Schreckens gewechselt: Beschreibungen von purpurnen Qurraji, die alles vernichteten, was ihnen im Weg stand, und von Nordmännern in schwarzen Kettenpanzern, die abgehackte Köpfe schwangen und Tierlaute ausstießen. Die Götzendiener schienen überall zu sein.
    Viele Amoti stolperten auf den großen Esharsa-Markt, wo sie das dreieckige Banner eines leibhaftigen Granden, des Prinzen Hûkal von Mongilea, mit vierhundert Reitern erwartete, die allesamt echte Wüstenmänner von den erbarmungslosen Ebenen des Großen Salzsees waren. Die gemeinen Soldaten wurden auf dem Kopfsteinpflaster neu formiert, während der schwarz gewandete Prinz ihnen den Propheten Fane und seinen unbezähmbaren Mut in Erinnerung rief. Bald standen etwa zweitausend Gläubige mit aufgerichteten Schultern und neuer Zuversicht auf dem Platz.
    Das war gerade noch rechtzeitig, denn schon herrschte in den Straßen ringsum Gedränge, wo die Fanim hastig errichtete Barrikaden gegen die Ritter aus Conriya verteidigten. Die Zahl der Götzendiener stieg stetig, da immer mehr Trupps der Inrithi, die durch die Straßen strichen, sich den Barrikadenkämpfen ihrer Waffenbrüder anschlossen. Als sie schließlich bis zum Marktplatz vorgedrungen waren, blieben sie stehen und wagten erst anzugreifen, als ein paar Hundert von ihnen versammelt waren. Die Barone und Ritter aus Anplei führten den Angriff an, um den Tod Gaidekkis, ihres geliebten Pfalzgrafen, zu rächen, doch Hûkal und seine Männer drängten sie zurück und brachten ihnen schwere Verluste bei. Erst als Prinz Nersei Proyas mit den Pfalzgrafen Ingiaban und Ganyatti eintraf, konnten sie einen entschlossenen Angriff durchführen. Die Amoti verzagten schon bald und flohen in die östlichen Straßen, von denen die Männer aus Conriya allerdings schon viele erobert hatten. Die Reiter aus Mongilea aber erwiesen sich als weit hartnäckiger, und ihre Angriffe forderten einen furchtbaren Blutzoll. Selbst als ihre Pferde sie im Stich ließen, kämpften sie mit grimmigem Eifer weiter. Lord Ganyatti, der Pfalzgraf von Ankirioth, focht selbst mit dem mächtigen Prinzen Hûkal. Der Heide schlug ihm den Schild aus der Hand und zertrümmerte sein Schlüsselbein mit einem Hieb, der sein Krummschwert zerbrach. Ganyatti stürzte dabei rückwärts vom Pferd und wurde von Hufen zertrampelt.
    Unter Führung des ungestümen Proyas durchbrachen die Leute aus Conriya die Phalanx der heidnischen Reiter und bargen den entstellten Leichnam des Pfalzgrafen. Die Männer aus Mongilea zogen sich in die umliegenden Straßen zurück. Mit mächtigen Flüchen auf den Lippen setzten die ihres Herrn beraubten Kämpfer aus Ankirioth ihnen nach.
    Der Prinz aber zog Ingiaban zur Seite.
    »Was ist?«, fragte der stämmige Pfalzgraf durch seine Kriegsmaske hindurch.
    »Wo sind die Fanim?«, fragte Proyas.
    »Wie meinst du das?«
    »Sie tun doch nur so, als würden sie ihre Stadt verteidigen.«
     
     
    Alles, was Kellhus von seinem Vater sah, waren zwei Finger und ein Daumen, die locker auf einem nackten Oberschenkel lagen. Der Daumennagel schimmerte.
    »Als Dûnyain«, fuhr die geisterhafte Stimme fort, »hattest du keine Wahl. Um selbst zu befehlen, musstest du die Umstände beherrschen, dafür die Handlungen der Menschen um dich herum deinem Willen unterwerfen und ganze Nationen zu deinen Gliedern machen. Zu diesem Zweck hast du die Überzeugungen deiner Umgebung unerbittlich geprüft. Das war unerlässlich.
    Du hast gemerkt, dass Wahrheiten, die den Interessen der Mächtigen zuwiderlaufen, als Lügen gelten und man Lügen, die den Interessen der Mächtigen dienen, Wahrheiten nennt. Und du hast begriffen, dass es so sein muss, da das Überleben von Nationen nicht vom Wahrheitsgehalt der Überzeugungen abhängt, sondern von deren Funktion. Warum nennt man die Abkunft eines Herrschers göttlich? Warum sagt man Sklaven, zu leiden sei eine Gnade? Wichtig ist, was Überzeugungen bewirken, welche

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