Der tausendfältige Gedanke
das war ihr klar – nie in Kellhus’ unendlich blauen Augen finden würde. Er roch warm… und bitter.
Seine Lippen waren feucht.
Eleäzaras ließ den Blick über die verwüstete Umgebung wandern. Er hörte sich kichern, erkannte aber seine Stimme nicht wieder. Was empfand er? Finstere, hämische Schadenfreude, wie sie den überkommen mag, dessen verhasster Bruder oder ungeliebte Schwester doch noch geschlagen wird. Dazu Reue und Furcht, sogar schreckliche Angst. Es war, als stürzte und stürzte er und schlüge doch nie auf.
Und er verspürte… Allmacht. Wie Alkohol rollte sie brennend durch seine Adern und ließ seine Seele glühen wie Opium.
Wie die Geister enthaupteter Schlangen bäumten sich Drachenköpfe über den Einheiten auf und spien mächtige Feuerstöße aus. Gleich rechts von ihm beschwor einer – Nem-Panipal? – schwarz brodelnde Wolken, aus denen ein Geflecht blendender Blitze schoss. Mauern zerbarsten. Ein gefällter Turm stürzte auf seine Grundmauern und blieb wie ein umgedrehter Schiffsrumpf liegen.
Der Hochmeister kicherte, als die Staubwoge über ihn wegrollte. Shimeh brannte! Shimeh brannte!
Sarothenes, von dessen Schildträgern jede Spur fehlte, hatte es irgendwie an seine Seite geschafft. Warum riskierte dieser Narr –
»Du übertreibst!«, rief der spindeldürre Hexenmeister, dessen Gesicht zerfurcht und verrußt war. »Du verschwendest unsere Energie an Frauen, Kinder und totes Gestein!«
»Bringt sie um!«, stieß Eleäzaras hervor. »Es ist mir egal!«
»Aber die Cishaurim, Eli! Wir müssen uns schonen!«
Unvermittelt dachte der Hochmeister an all die Sklaven, die seiner Lust zu Willen gewesen waren, und an die herrlichen Qualen, die er dabei gespürt hatte, und begriff, wie sehr diese Empfindungen dem glichen, was er gerade fühlte. Er hatte die Männer des Stoßzahns blutbesudelt aus der Schlacht zurückkehren und mit furchterregenden Augen lächeln sehen.
Als wollte er Sarothenes diesen Blick zeigen, drehte er sich um und wies auf die schwefelige Katastrophe.
»Schau!«, stieß er verächtlich hervor. »Schau, was wir erreicht haben.«
Der mit Ruß befleckte Hexenmeister sah ihn entsetzt an. Lichter blitzten über seine verschwitzten Wangen.
Eleäzaras wandte sich wieder der brennenden Stadt zu, um sich an dem zu weiden, was er mit Hexenkraft vollbracht hatte.
Shimeh brennt … Shimeh.
»Unsere Macht«, knurrte er. »Unser Ruhm!«
Ungläubig betrachtete Proyas von der Brustwehr des Mirraz-Tors aus die Szenerie.
Mächtige dunkle Wolken mit eigenartigen Wirbeln kreisten schwerfällig um die Achse der Heiligen Höhen. Allein dies zu beobachten, ließ seine Knie weich werden. Von seinem Standpunkt aus wirkte der Erste Tempel unglaublich nah. Er konnte gepanzerte Fanim aus dem Dunkel hinter dem äußersten Säulenring auftauchen, Treppen hinunterspringen, Gänge entlanglaufen und hinter den Zinnen der Heterin-Mauer verschwinden sehen. Doch was ihn bestürzte, war die Wand aus Rauch und Feuer, die sich von den Trümmern des Massus-Tors den Heiligen Höhen näherte: kalkweiße Rauchbänder; Schwaden ockerfarbenen Staubs; grau wogende Schleier; Wolken, deren kompakte Schwärze an flüssigen Basalt denken ließ. Und dazwischen überall wütende Feuer, Blitze und goldglühende Trümmerfontänen. Ganze Stadtviertel waren nur noch ein Haufen schwelender Ruinen.
Ingiaban lachte wie toll. »Hast du je so etwas gesehen?«
Proyas drehte sich um und wollte ihn zurechtweisen. Dabei entdeckte er eine Gestalt in schimmerndem Purpur, die sich einen Weg durch die Leichenhaufen in ihre Richtung bahnte. Der Mann schwankte kurz, als er im Blut ausrutschte. Sein eisengrauer Zopf hing über der linken Schulter.
»Was macht ihr nur?«, rief Proyas.
Der Ordensmann der Scharlachspitzen kümmerte sich nicht um ihn, sondern stellte sich so, dass er nach Westen sah, und streckte die Arme weit aus.
»Ihr zerstört ja die ganze Stadt!«
Der alte Mann wirbelte rasch herum; sein prunkvolles Gewand schwang ihm nach. Trotz des gleichmütigen Blicks und der gebeugten Gestalt war seine Stimme so energisch wie wütend. »Undankbarer aus Conriya! Den Cishaurim gehört der Himmel. Sie nutzen die Dunkelheit, um ihre Chorae zu verstecken! Wenn wir diesen Kampf verlieren, ist alles verloren, verstehst du? Das heilige Shimeh… Zum Henker mit eurer verfluchten Stadt!«
Über das Auftreten des Ordensmanns und über seine Heftigkeit erschrocken, trat Proyas einen Schritt zurück. Fluchend
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