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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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wandte der Alte sich wieder seiner Aufgabe zu, während Proyas die Mauer entlang zum nächsten Turm spähte. Inmitten der winzigen Gestalten, die dort auf der Brustwehr wimmelten, lehnte ein weiterer weißbärtiger Ordensmann an den Zinnen. Auch er streckte die Arme gen Westen und sang mit blitzenden Augen seine Formeln. Schwarze Wolken standen wie Rippen am Himmel, während das Meneanor-Meer dahinter noch immer weißblau schimmerte und in fernes Sonnenlicht getaucht war.
    Auch der Hexenmeister vor Proyas begann zu singen. Eine Böe blähte seine weiten Ärmel.
    Und eine Stimme flüsterte: Nein… nicht so.
    Kellhus hatte es aufgegeben, den Wasservorhang, der das, was sich dahinter befand, nur als glitzernde Linien und verschwommene Schatten sehen ließ, durchdringen zu wollen.
    »Macht«, sagte Anasûrimbor Moënghus, »ist immer Herrschaft. Wenn ein Säugling beides werden kann, welchen Unterschied gibt es dann zwischen einem Fanim und einem Inrithi, einem Nansur und einem Scylvendi? Was im Menschen mag so formbar sein, dass jeder, sofern er zwischen verschiedenen Lebenswelten hin und her gerissen wird, sein eigener Mörder werden könnte?
    Diese Lektion hast du schnell gelernt. Du hast dir die Welt angeschaut und Abertausende gesehen – ob übers Feld gebeugt oder die Beine zur Decke spreizend, ob aus den heiligen Schriften lesend oder Stahl hämmernd… Abertausende, und jeder führte einen kleinen Kreis sich wiederholender Handlungen aus, war ein Rad in der großen Maschine der Nationen…
    Du hast verstanden, dass des Kaisers Herrschaft vorbei ist, wenn die Menschen sich nicht mehr vor ihm beugen, und dass die Sklaven nicht mehr dienen, wenn die Peitschen in den Fluss geworfen sind. Damit ein Kleinkind Kaiser oder Sklave, Kaufmann oder Hure, General oder was auch immer wird, muss seine Umgebung sich entsprechend verhalten. Und Menschen handeln gemäß ihrem Glauben.
    Du hast gesehen, dass Tausende in gewaltigen Hierarchien stecken und genau so handeln, wie es den Erwartungen anderer entspricht. Und du hast entdeckt, dass die Identität eines jeden von den Überzeugungen und Annahmen seiner Umgebung bestimmt wird und dass sie es sind, die ihn erst zum Kaiser oder Sklaven machen – nicht die Götter oder die Herkunft.
    Nationen und Menschen sind durchaus miteinander vergleichbar«, sagte Moënghus durch das rauschende Wasser hindurch. »Menschen handeln ihrem Glauben gemäß. Und sie glauben, was man ihnen zu glauben beigebracht hat. Da sie für diesen Umstand aber blind sind, sind sie nicht fähig, an ihren unmittelbaren Erkenntnissen und Erfahrungen zu zweifeln…«
    Kellhus nickte in vorsichtiger Zustimmung. »Sie glauben rückhaltlos«, sagte er.
    Unwillkürlich nahm er ihre Hand und zog sie zu dem verfallenen Mausoleum. Sie lächelte unter Tränen. Ihr Gesicht war herzzerreißend schön, während gleich links von ihrer Wange der Erste Tempel – klein wie eine Sommersprosse – aus dem Rauch und den brennenden Straßen des fernen Shimeh ragte.
    In der Südostecke des Mausoleums waren die Mauern gänzlich eingestürzt. Er stieg über die Trümmer und drückte dabei mit seinen Sandalen die Gräser platt. Dann zog er sie ins halbdunkle Innere, wo junge Bäume ihre Wurzeln geschlagen hatten. Insekten schwirrten ins Abendlicht. Die beiden küssten sich erneut und umarmten sich inniger als zuvor. Dann landeten sie auf dem kalten, harten Boden, auf dem sich vielerlei Getier tummelte.
    Nein, flüsterte etwas in ihm. Nicht so… nicht so!
    Und er, nein, sie beide wussten, dass sie dabei waren, ein Verbrechen mit einem anderen zu tilgen… Doch er konnte nicht aufhören, obwohl er wusste, dass sie ihn danach hassen würde und dass sie genau das wollte…
    Etwas Unverzeihliches.
    Sie weinte und flüsterte Unverständliches. Achamian glaubte, nur Schmerz, Verlangen und Anklage zu vernehmen. Was tue ich nur?
    »Ich höre dich nicht«, murmelte er und nestelte an den Schößen ihres Kleids. Warum war er so außer sich? Wovor hatte er Angst?
    Gütiger Sejenus! Wie konnte ein Herz so hämmern?
    Bitte. Bitte.
    Sie lag unter ihm, hob und senkte den Kopf und biss sich auf den Daumenknöchel.
    »Wir sind tot«, keuchte sie. »Er liebt mich doch… Töten wird er…«
    Dann drang Achamian in sie ein.
    Die Amoti und ihre Kianene-Aufseher flohen von den Mauern und rannten in die Dämmerung der Straßen. Die Eisenmänner waren mit mörderischer Hexenkunst und kreischenden Hörnern über sie hergefallen. Diese verwünschten

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