Der tausendfältige Gedanke
unzähligen Folgerungen und der Eleganz des Tausendfältigen Gedankens blieben zahllose Variablen un vorhersehbar. Jede seiner Falten enthält eine Vielfalt möglicher Katastrophen, von denen fast alle unwahrscheinlich, einige aber beinahe sicher sind. Ich hätte den Tausendfältigen Gedanken längst aufgegeben, wenn das nicht furchtbare Folgen hätte. Nur ein Initiierter konnte ihm folgen – nur du, mein Sohn.«
Lag wirklich ein Anflug von Trauer in der Stimme seines Vaters? Kellhus wandte sich von den Hautkundschaftern ab und taxierte seinen Vater erneut.
»Du redest, als wäre der Tausendfältige Gedanke etwas Lebendiges.«
Das augenlose Gesicht blieb reglos.
»Weil er lebendig ist.« Moënghus trat zwischen die beiden Hautkundschafter. Trotz seiner Blindheit bekam er eine der vielen Ketten sicher zu fassen und strich mit dem Finger daran herunter. »Hast du von einem Spiel aus dem südlichen Nilnamesh gehört, das Viramsata oder Viele Atemzüge heißt?«
»Nein.«
»Auf den Ebenen um die Stadt Invishi herum lebt der herrschende Adel vollkommen zurückgezogen. Er ist saft- und kraftlos, doch die Narkotika, die er anpflanzen lässt, sichern ihm den Gehorsam seiner Untertanen. Über die Jahrhunderte hat dieser Adel das Jnan so verfeinert, dass es den alten Glauben abgelöst hat. Manch einer verbringt sein ganzes Leben mit bloßem Gerede. Aber Viramsata unterscheidet sich grundlegend von den Gerüchten bei Hof oder dem Geschwätz der Eunuchen im Harem. Seine Spieler haben aus der Wahrheit ein Spiel gemacht. Sie erzählen Lügen darüber, wer wem was gesagt hat, wer mit wem schläft und so weiter. Das tun sie pausenlos. Wichtiger ist aber, dass sie sich große Mühe geben, die Lügen anderer – zumal die eleganten Lügen – in Szene zu setzen, um sie womöglich wahr werden zu lassen. Und so geht es immerfort weiter, bis es keinen Unterschied mehr zwischen Lüge und Wahrheit gibt.
Am Ende wird in einer feierlichen Zeremonie die überzeugendste Geschichte zum Pirvirsut erklärt. Dieses Wort aus dem alten Vaparsisch bedeutet so viel wie ›dieser Atem ist Grundlage‹. Die schwachen, holprigen Geschichten werden ausgeschieden, und andere erstarken und stecken nur vor dem Pirvirsut zurück.
Verstehst du? Die Viramsata werden lebendig, und wir sind ihr Schlachtfeld.«
Kellhus nickte. »Wie Inrithismus und Fanimismus.«
»Genau. Beides sind Lügengebäude, die sich im Laufe von Jahrhunderten durchgesetzt und fortgezeugt und die Welt mit irrigen Weltanschauungen unter sich aufgeteilt haben. Sie sind Zwillings-Viramsata, die im Moment vermittels der Stimmen und Glieder vieler Menschen gegeneinander Krieg führen. Dabei handelt es sich bei ihnen bloß um zwei große Ungeheuer ohne jeglichen Gedanken, die sich in den Seelen der Menschen ausbreiten.«
»Und was ist der Tausendfältige Gedanke?«
Moënghus wandte sich seinem Sohn so zielgerichtet zu wie ein Sehender. »Ein Verführer, der die Menschen anstachelt und bluten lässt; eine Ereignisformel, die den Lauf der Geschichte ändert; eine große Übergangsregel, die Inrithismus und Fanimismus verwandeln wird. All das ist der Tausendfältige Gedanke.
Überzeugungen führen zu Taten, Kellhus. Wenn die Menschen die dunklen Jahre, die kommen werden, überleben sollen, müssen sie an einem Strang ziehen. Solange es Inrithi und Fanim gibt, wird das nicht möglich sein. Sie müssen sich einem neuen Irrglauben beugen, einem neuen Atem, der Grundlage ist. Alle Seelen müssen umgeschrieben werden… Es gibt keinen anderen Weg.«
»Und die Wahrheit?«, fragte Kellhus. »Was ist damit?«
»Für Menschen gibt es keine Wahrheit. Sie ernähren und paaren sich, betören ihr Herz mit Schmeicheleien und erleichtern sich das Denken durch Mitleid erregende Vereinfachungen. Für sie ist der Logos nur ein Werkzeug der Lust… Sie rechtfertigen sich und geben anderen die Schuld. Sie erheben ihr Volk über andere Völker, ihre Nation über andere Nationen. Sie richten ihre Ängste auf Unschuldige. Und wenn sie Worte wie diese hören, erkennen sie sie – aber als Fehler anderer. Sie sind Kinder, die gelernt haben, ihre Wutanfälle vor ihren Frauen und Kameraden zu verbergen – und vor allem vor sich selbst…
Kein Mensch sagt: ›Sie sind auserwählt, und wir sind verdammt‹ – ihnen fehlt der Mut zur Wahrheit.«
Moënghus trat zwischen seinen gesichtslosen Gefangenen vor und kam mit ausdrucksloser Miene auf Kellhus zu. Er streckte die Rechte aus, als wollte er das Handgelenk
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