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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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erhören…
    Das Skilura-Aquädukt erstreckte sich schnurgerade vor ihnen von der Stadt bis zum Horizont. Lange Abschnitte, in denen sich Bögen über Bögen erhoben, waren unversehrt, während andere Teile in Trümmern lagen. Zwischen zerstörten Pfeilern und Geröll hatten die Inrithi sich dicht gedrängt hinter ihren Schilden verbarrikadiert. Der Abstand wurde immer kleiner. Gleich, gleich war es so weit. Einen Herzschlag lang hielten der dröhnende Gesang und das andringende Gebrüll einander die Waage…
     
    Bringen wir dem Morgen Ruhm?
     
    Dann schien die Welt auseinanderzufliegen.
    Lanzen brachen. Schilde barsten. Einige Pferde scheuten und bäumten sich auf, andere stürmten durch die Kampflinie. Männer stießen zu und verhakten sich. Gesang und Gebrüll gerieten ins Stocken, und schrille Schreie drangen zum Himmel. Von den Höhen des Aquädukts ließen die Bogenschützen der Inrithi unverwandt Vernichtung herabregnen. Andere wuchteten Felsblöcke und Steine auf die wogende Menge. Hier und da brachen Heiden bis zur anderen Seite durch, wo die Ritter aus Ce Tydonn und Ainon sie sofort angriffen. Auf allen Seiten kam es zu Blutvergießen und Handgemenge.
     
     
    »Sogar die Dunyain«, sagte Moënghus, »sind von diesen Schwächen nicht ganz frei. Selbst ich nicht. Und du auch nicht, mein Sohn.«
    Was er damit meinte, war eindeutig. Deine Prüfung hat dir den Verstand geraubt.
    War es das, was unter den schwarzen Ästen des Umiaki geschehen war? Kellhus wusste noch, dass er sich von Serwës Leichnam erhoben hatte, erinnerte sich der Hände, die ihn in weißes Leinen gehüllt hatten, und daran, wie das Sonnenlicht, das durch das dichte Laub gedrungen war, ihn hatte blinzeln lassen. Er wusste noch, dass er gegangen war, als er hätte tot sein sollen, dass er die Männer des Stoßzahns zu Tausenden gesehen hatte und dass sie alle vor Erstaunen und Erleichterung, ja vor Ehrfurcht gejubelt hatten…
    »Das ist nicht alles, Vater. Du bist ein Cishaurim. Du musst das wissen.«
    Er konnte sich an die Stimme erinnern.
    WAS SIEHST DU?
    Auch ohne Augen hatte das Gesicht seines Vaters noch immer etwas Musterndes. »Du meinst deine Visionen und die Stimme aus dem Nirgendwo. Aber wo ist dein Beweis? Was garantiert, dass deine Behauptung mehr ist als das Hirngespinst eines Verrückten?«
    SAG ES MIR.
    Welche Garantie hatte er? Die Seele verschloss sich vor den Grausamkeiten der Wirklichkeit. Das hatte er so oft in vielen Augen gesehen… Wie konnte er sich also sicher sein?
    »Aber bei Mengedda«, sagte er. »Die Tempelritter… Was ich prophezeit habe, ist eingetroffen.« Für normale Menschen hätte das inhaltsleer geklungen, unbesorgt und grundlos dahingesagt. Aber für einen Dunyain…
    Soll er ruhig denken, ich schwanke.
    »Das war bloßer Zufall«, erwiderte Moënghus. »Dennoch bestimmt das Frühere das Spätere. Wie sonst hättest du all das erreichen können, was du erreicht hast? Wie hättest du sonst möglich sein können?«
    Er hatte recht. Prophezeiung an sich war ein Ding der Unmöglichkeit. Würden die Ergebnisse von Entwicklungen deren Anfänge prägen, würde also die Zukunft die Vergangenheit bestimmen, wie hätte er dann so viele Menschen unter seine Kontrolle bringen können? Und wie könnte der Tausendfältige Gedanke dann das Gebiet der Drei Meere beherrschen? Das Prinzip von Vorher und Nachher musste einfach wahr sein, da es solche Macht verlieh…
    Sein Vater musste recht haben.
    Woher kam also seine Gewissheit, seine unerschütterliche Überzeugung, dass Moënghus sich irrte?
    Bin ich verrückt?
    »Die Dûnyain«, fuhr sein Vater fort, »halten die Welt für geschlossen und glauben, es gebe nur das Weltliche. Darin irren sie gewiss. Die Welt ist offen, und die Seele steht breitbeinig auf ihrer Grenze. Doch was im Jenseits liegt, Kellhus, ist nur ein gebrochenes und verzerrtes Spiegelbild dessen, was im Innern liegt. Ich habe fast so lange gesucht, wie du lebst, und nichts gefunden, was diesem Prinzip widerspräche.
    Die Menschen sind wegen ihrer angeborenen Schwächen nicht in der Lage, dies zu erkennen. Sie schenken nur den Dingen Aufmerksamkeit, die ihre Ängste und Begehrlichkeiten bestätigen, und was dagegen steht, tun sie entweder ab, oder sie übersehen es. Sie sind auf Bestätigung aus. Die Priester jubeln über diesen oder jenen Vorfall, während sie alle anderen Ereignisse stillschweigend übergehen. Ich habe beobachtet, mein Sohn, und jahrelang gerechnet, und ich habe festgestellt, dass

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