Der tausendfältige Gedanke
nach außen drang.
Nein, es ist keine Ausnahme…
Er betrachtete die verlassenen Läden in den Gebäuden vor ihm und entdeckte weiter hinten in einem der Geschäfte etwas, das wie ein Stoßzahn aussah. Er runzelte unter der eng anliegenden Kriegsmaske die Stirn, trat über die Schwelle und kam an Seilen mit Alltagskeramik und an Regalen vorbei, die mit hölzernen Schalen und Tellern gefüllt waren.
Da war das Zeichen, vielleicht so groß wie sein Unterarm und mit Pech auf eine ärmliche Tür gemalt. Die ungemein primitive Darstellung zog ihm die Kehle zusammen. Ein Schwindelgefühl, wie es Angst oder Erwartung begleiten mag, verwirrte ihm Herz und Glieder. So hatte er sich gefühlt, wenn seine Mutter ihn als Kind mit in den Tempel genommen hatte.
Er hob die Hand und spürte das Holz durch die Kettenglieder seines Handschuhs hindurch. Als die Tür aufschwang, stockte ihm der Atem.
Von Schlafmatten abgesehen hatte das Zimmer keine Einrichtung und mochte die Behausung von Menschen sein, die ihrer Schulden wegen versklavt worden waren. Ein Mann – ein gewöhnlicher Amoti offenbar – lehnte zusammengesunken an der rechten Wand, wo er offensichtlich verblutet war. Das Heft eines Messers lag knapp außerhalb der Reichweite seiner violetten Finger. Ein anderer Mann – einer der Kianene, die sie über den Esharsa-Markt gejagt hatten – lag bäuchlings auf dem leicht abschüssigen Boden. Sein Blut war über die Planken geflossen, an Holzspänen kleben geblieben und die Mörtelritzen entlanggelaufen. Eine Frau und ein junges Mädchen kauerten – im Dunkeln kaum sichtbar – in der gegenüberliegenden Ecke und sahen ihn mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen an.
Ihm fiel ein, dass er seine silberne Kriegsmaske trug. Er schob sie in die Stirn und genoss die plötzliche Kühle auf seinem Gesicht. Überraschenderweise nahm die Angst der Frau nicht ab. Er blickte an sich herab und sah wie zum ersten Mal das Blut, mit dem sein weißblauer Khalat bespritzt und besudelt war. Er hob die in Handschuhen steckenden Hände. Auch sie waren blutrot.
Er dachte an Gräueltaten, tödliche Schwertstreiche, Schreie, entsetzte Flüche. Und er dachte an Sumna, daran, dass er die Stirn an Maithanets Knie gedrückt und wie ein Wiedergeborener geweint hatte. Wie hatte er nur so tief sinken können?
Trotz dröhnender Trommeln und ferner Hörner kam es ihm vor, als hallten seine Schritte durch völlige Stille. Die Mutter weinte, schaukelte vor und zurück, während er näher kam, und begann dann, etwas zu brabbeln.
»… merutta k’al alkareeta! Merutta! Merutta!«
Verzweifelt strich sie sich etwas Blut von Unterlippe und Kinn und schmierte damit auf den Boden zu seinen Füßen. Ob das ein Stoßzahn sein sollte?
»Merutta!«, rief sie, doch ob das Stoßzahn oder Gnade heißen sollte, wusste er nicht zu sagen.
Sie schrien und schraken zurück, als er die Hand nach ihnen ausstreckte. Er zog das Mädchen auf die Beine und fand ihre Leichtigkeit erschreckend und erregend zugleich. Sie schlug kraftlos nach ihm und wurde schließlich ganz still. Die Mutter schwankte zwischen Schreien und Flehen und malte Stoßzahn für Stoßzahn auf den staubigen Boden.
Nein, Prosha…
Es sollte nicht sein… Nicht so.
Aber das sollte es ja nie.
Er glaubte, das Mädchen trotz des Gestanks ringsum zu riechen – säuerlich, rein und ein wenig nach Moschus. Ihr Geruch erschien ihm wie eine Verheißung. Er zog sie ins diffuse Licht und sah ihr gestutztes schwarzes Haar, ihre nassen Augen und verheulten Wangen. Wie schön diese Tochter seiner Feinde war! Schmale Hüften, lange Beine…
Wenn er sie niederstäche, würde er dann den Tod am Ende seines Arms spüren? Wenn er sie begehrte…
Ein gewaltiger Donnerschlag ließ die Luft erzittern und das Gebäude in den Fundamenten beben.
»Lauft weg«, murmelte er, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht verstand. Er zog sie ins Halbdunkel zurück und half ihrer Mutter mit verschmierter Hand auf die Beine. »Ihr müsst euch ein besseres Versteck suchen.«
So war Shimeh.
»In dieser Welt«, sagte Moënghus, »gibt es – wie du sicher gemerkt hast – nichts Kostbareres als unser Blut. Doch die Kinder, die wir mit den Frauen hier draußen haben, haben nicht die gleichen Fähigkeiten wie wir. Maithanet ist kein Dunyain. Er vermochte nur den Weg zu bereiten.«
Ihr Name stieg wie ein Schmerz aus dem Dunkel auf: Esmenet.
»Nur ein echter Sohn Ishuäls konnte Erfolg haben«, fuhr sein Vater fort. »Trotz der
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