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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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liebte ihn… diesen Mann, der ihm die Augen geöffnet und ihn in die weglose Steppe geführt hatte…
    »Ich sterbe, Nayu«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Ich brauche deine Kraft.«
    … um ihn dann zu verlassen und aufzugeben.
    Er hatte nur ihn geliebt. Nur ihn!
    Heulende Schwuchtel!
    Der Kuss war innig, der Geruch streng. Sein Herz hämmerte. Scham trat ihm aus jeder Pore, glitt über seine zitternden Glieder und entfachte eine noch tiefere Leidenschaft.
    Bebend atmete er in Moënghus’ Mund. Die Schlangen wanden sich durch sein Haar und drückten gegen seine Schläfen. Cnaiür stöhnte.
    Es war so anders als bei Serwë oder Anissi. Wie das Zupacken eines Ringers, fest und unnachgiebig. Wie die Verheißung von Hingabe, von Schutz in kräftigeren Armen.
    Er langte in seine Hosentasche.
    Mit schweren Augen murmelte er: »Ich bin in weglosem Gebiet unterwegs.«
    Moënghus keuchte, zuckte kurz und erstarrte, als Cnaiür das Chorum über seine Wange rollte. Weißes Licht flackerte aus den Augenhöhlen des Dunyain. Einen Moment lang schien es, als habe Gott Cnaiür durch den Schädel eines Menschen angesehen.
    Was siehst du?
    Dann aber glitt sein Liebhaber zu Boden – brennend natürlich, wie es angesichts der Kraft dessen, was von ihnen Besitz ergriffen hatte, nicht anders sein konnte.
    »Nicht noch mal!«, rief Cnaiür der wegsackenden Gestalt zu. Er stolperte auf die Knie, weinte und war völlig außer sich. »Wie hast du mich nur verlassen können?«
    Sein Schreien hallte durch die leeren Gänge, als wollte es die Welt erfüllen.
    Und er lachte und dachte an das letzte Swazond, das er sich in die Kehle ritzen würde. Ein letzter Gedanke zuviel…
    Er kicherte, doch es war ein Kichern tiefsten Kummers.
    Er kniete über dem Leichnam seines Liebhabers – für wie lange, würde er nie erfahren. Als das magische Licht zu verglimmen begann, spürte er eine kalte Hand an der Wange. Er drehte sich um und sah Serwë… Einen Moment lang zeigten sich Risse in ihrem Gesicht, als schnappe es nach Luft, doch dann war es wieder nahtlos und vollkommen.
    Ja. Serwë… Die erste Frau seines Herzens.
    Sein Beweis und sein Preis.
    Völlige Dunkelheit verschlang die beiden.
    Die Flammenwände um die von den Scharlachspitzen angerichtete Verwüstung herum fraßen sich vor und ließen rauchende Trümmer zurück. Wundersamerweise aber war die alte Walkmühle mit ihren Säulengängen und Bassins unversehrt geblieben. Von ihrem Südgiebel aus hatte Proyas den Untergang der Scharlachspitzen wie von einer gewaltigen Klippe mit angesehen.
    Die Trommeln der Heiden hatten das unheimliche Dröhnen der Zauberformeln ersetzt. Gerade schwebten die letzten Cishaurim – er sah nur fünf – über die verkohlte und verlassene Gegend. Die Nattern an ihren Hälsen suchten den Boden nach Überlebenden ab. Wieder und wieder ließen die Hexenpriester Blitze los, und Donner rollte über den düsteren Himmel.
    Er wusste nicht, was es bedeutete. Er wusste nichts…
    Nur, dass dies Shimeh war.
    Er blickte zum Himmel. Durch den Dunst sah er den ersten Anflug von Blau und einen Goldrand um flauschiges Schwarz herum.
    Dann blitzte es in seinem Augenwinkel. Er sah zu den Heiligen Höhen und entdeckte einen Lichtpunkt über dem Dachvorsprung des Ersten Tempels. Der Punkt schwebte in der Luft und ließ die Schieferschindeln der Kuppel weiß erscheinen. Dann explodierte er blendend hell. Wie gekappte Segel stiegen Rauchwände auf und trieben über die Cishaurim und die Verwüstung hinweg.
    Und Proyas entdeckte dort, wo das Licht geleuchtet hatte, eine Gestalt. Zwar war sie so weit weg, dass er ihre Züge kaum ausmachen konnte, doch ihr Haar war golden, und ihr wehender Umhang war weiß.
    Kellhus!
    Der Kriegerprophet.
    Proyas blinzelte und bekam eine Gänsehaut.
    Der Dunyain glitt vom Tempel und schwebte über die erstaunten Fanim auf der Heterin-Mauer hinweg die Hänge hinab und an brennenden Bauten entlang. Trotz der Entfernung hörte Proyas seinen magischen Gesang.
    Die verstreuten Cishaurim drehten sich gleichzeitig um. Mit Augen, deren Strahlen vermuten ließ, der Nagel des Himmels habe einen Zwilling bekommen, wandelte der Kriegerprophet über die Höhen auf sie zu. Bei jedem Schritt schienen Trümmer zu ihm aufzufliegen und in Bahnen um ihn herum einzutreten, wobei kleinere Umläufe die größeren schnitten, bis die um Kellhus rotierenden Trümmer ihn förmlich verdeckten.
    Die Sonne brach wie nach einer Sintflut durch die Wolken. Gewaltige Strahlen fielen

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