Der tausendfältige Gedanke
abstoßender Bilder passiert. Sie waren durch Ruinen gekommen, von denen Serwë gesagt hatte, es seien die Minen der Cûnuroi, die vor langer Zeit von den Vorfahren der Menschen ermordet worden seien. Cnaiür wusste, dass kein Weg ihn weiter von der Steppe hätte wegführen können. Sein Herz hatte in den Ohren geklopft. Er hatte flüchtig seinen Vater Skiötha im Dunkeln winken sehen. Und nun…
Nun war er da: Moënghus!
Serwë griff ihn zuerst und so schnell an, dass ihre Glieder und ihr Schwert nur verschwommen zu erkennen waren. Er aber gebot ihr mit blau blitzenden Händen Einhalt und schlug ihre schlanke Gestalt einfach zur Seite…
Im selben Moment attackierte ihr Bruder, drosch nach Moënghus’ Händen und wirbelte tretend herum; er wurde aber einfach an der Kehle gepackt und schlug glotzend um sich, als der Blinde ihn vom Boden hob, seinen Kopf mit blauem Licht in Brand setzte und ihn in eine Kerze verwandelte. Das vielgliedrige Gesicht des Wesens öffnete sich zuckend, und der Blinde warf den Toten zu Boden.
Derweil hatte Cnaiür sich genähert. Er ging festen Schritts, obwohl die Taubheit in seinen Beinen den Eindruck vermittelte, er watschelte.
Er dachte daran, wie er sich Kellhus ähnlich genähert hatte, als er ihn – umgeben von leblosen Sranc – halbtot auf dem Hügelgrab seines Vaters entdeckt hatte. Er erinnerte sich an die gliederlähmende Atmosphäre von Alpträumen, in denen das Atmen ihm stechende Schmerzen bereitet hatte. Doch das hier war etwas anderes! Damals hatte der Abschied von seiner Heimat, seinem Stamm und von allem begonnen, was er für heilig und stark gehalten hatte. Nun aber war er am Ziel, denn das dort vorn war er…
Er!
Drei schwarze Schlangen wanden sich um Moënghus’ Hals, von denen eine auf jeder Schulter lag, während die Dritte sich auf seinem glänzenden Schädel schlängelte. Cnaiür entdeckte die Wunde im Unterleib des Dunyain und das Blut, das rosafarben in seinen Lendenschurz sickerte. Dabei hatte er gar nicht mitbekommen, dass Moënghus verwundet worden war…
»Nayu«, sagte das blinde Gesicht. Das war doch die Stimme von Kellhus! Das waren doch seine Gesichtszüge! Wann war der Sohn die Gussform des Vaters geworden?
»Nayu… Du bist zu mir zurückgekehrt…«
Die Schlangen beobachteten ihn züngelnd. Sogar augenlos rührte ihn dieses Gesicht, in dem lang andauernde Reue und erstaunte Freude zu stehen schienen.
»Das hab ich ja immer gewusst.«
Cnaiür hielt an der Schwelle und war nur noch wenige Schritte von dem Mann entfernt, der ihn so tief verletzt hatte. Er schaute unruhig im Raum umher und sah Serwë reglos zu seiner Rechten liegen. Die gefangenen Hautkundschafter hingen elend zwischen Flaschenzügen und Ketten. An den Wänden waren unmenschliche Bilder zu sehen. Er blinzelte in das magische Licht, das unter dem in den Fels gehauenen Gewölbe hing.
»Nayu… steck dein Schwert weg. Bitte.«
Blinzelnd sah er die gekerbte Klinge vor sich, konnte sich aber nicht erinnern, seine Waffe gezogen zu haben. Das Licht perlte wie eine Flüssigkeit über das Metall.
»Ich bin Cnaiür von Skiötha«, sagte er. »Der grausamste Kämpfer auf Erden.«
»Nein«, sagte Moënghus leise. »Das ist nur eine Lüge, mit der du deine Schwäche vor anderen Menschen verbirgst, die ebenso schwach sind wie du.«
»Du bist es, der lügt.«
»Aber ich sehe es in dir. Ich sehe… deine Wahrheit. Ich sehe deine Liebe.«
»Ich hasse!«, rief Cnaiür so laut, dass die Gänge die Worte als tausendfaches Geflüster zurückwarfen.
Trotz seiner Blindheit gelang es Moënghus, so nachdenklich wie mitleidig zu Boden zu sehen. »So viele Jahre«, sagte er. »So viele Jahreszeiten… Alles, was ich dir gezeigt habe, hat dich verletzt und den Scylvendi entfremdet. Nun machst du mich für das verantwortlich, was ich dich gelehrt habe.«
»Getäuscht hast du mich!«, stieß Cnaiür hervor.
»Warum quält dich das dann so? Entlarvte Lügen verwehen doch wie Rauch. Nur die Wahrheit brennt, Nayu – das weißt du genau, denn du hast jahrzehntelang in ihr gebrannt.«
Plötzlich spürte Cnaiür, wie der Fels, der sich meilenhoch über ihnen türmte, an ihm zehrte. Zu weit, zu tief war er hinabgeklettert.
Das Schwert entglitt seinen tauben Fingern und klirrte mitleiderweckend über den Boden. Seine Miene verzerrte sich, als zucke darunter Ungeziefer. Leises Schluchzen drang durch den Rauro.
Und Moënghus hielt ihn, umarmte ihn, heilte seine unzähligen Wunden.
»Nayu…«
Er
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