Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
Vom Netzwerk:
Geheimnis erfahren?«, gurrte eine dünne Stimme. Das winzige Gesicht lächelte, als würde es unerwartet Gefallen an einem gleichgültigen Spiel finden.
    Zu betäubt, um Angst zu haben, nickte der Junge und hielt das Salz fest, das ihm zum Schicksal werden sollte.
    »Komm näher.«



17. Kapitel
     
    SHIMEH
     
     
     
    Glaube, sagen sie, sei nur Hoffnung, die für Wissen gehalten werde. Warum solle man also glauben, wenn Hoffnung allein ausreiche?
     
    Cratianas: Die Überlieferung der Nilnameshi
     
     
    Ajencis hat letztlich argumentiert, Unwissen sei das einzig Absolute. Laut Parcis hat er seinen Schülern gern gesagt, er wisse nur, dass er inzwischen mehr wisse als in seiner Kindheit. Diese vergleichende Feststellung sei der einzige Nagel, an den man die Zimmermannsschnur des Wissens binden könne. Dies ist uns als der berühmte Nagel des Ajencis überliefert, und nur dies hat den großen Philosophen aus Kyraneas davon abgehalten, in den sich im Kreise drehenden Skeptizismus des Nirsolfa oder in den peinlichen Dogmatismus zu verfallen, der fast alle Philosophen und Theologen heimgesucht hat, die je Tinte auf Pergament zu kratzen wagten. Aber selbst der Nagel ist eine falsche Metapher, wie sie sich so oft einschleicht, wenn wir unsere Aufzeichnungen mit dem verwechseln, was geschrieben steht. Wie die Ziffer Null, mit der die Mathematiker aus Nilnamesh wahre Wunder wirken, ist die Unwissenheit der verschwiegene Rahmen jeder Abhandlung, die unsichtbare Grenze all unserer Behauptungen. Die Menschen sind ständig auf der Suche nach dem Dreh- und Angelpunkt, von dem aus sie alle konkurrierenden Behauptungen aus dem Feld schlagen können. Die Unwissenheit gewährt uns diesen Punkt nicht. Eher erreichen wir ihn durch die Möglichkeit zu vergleichen und festzustellen, dass nicht alle Behauptungen gleichermaßen stichhaltig sind. Und das – so hat Ajencis immer gesagt – ist alles, was wir brauchen. Denn solange wir unsere Unwissenheit einräumen, können wir hoffen, unsere Behauptungen zu verbessern, und solange wir unsere Behauptungen zu verbessern vermögen, können wir nach der Wahrheit streben, ohne sie freilich je zu erreichen.
    Und deshalb bedauere ich meine Wertschätzung des großen Philosophen von Kyraneas. Denn so anziehend seine Weisheit ist, gibt es doch viele Dinge, derer ich mir absolut sicher bin – Dinge, die den Hass nähren, der diese Feder treibt.
     
    Drusas Achamian: Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs
     
     
    SHIMEH, FRÜHLING 4112
     
    Der Ciphrang segelte berauscht über den Himmel und kreischte dabei aus Leibeskräften. Achamian hing in seinen Klauen und sah Linien und Trauben von Kämpfenden und das qualmende Feuer einer brennenden Stadt. Der Dämon verlor Blut, das auf der Erde wie Petroleum zu brennen begann.
    In Spiralen rückte der Boden näher…
    Der Hexenmeister erwachte halb tot und atmete Staub ein, den er nicht von den Zähnen lecken konnte. Mit dem Auge, das er zu öffnen vermochte, sah er Sand am Fuße schwankenden Schilfs. Das Meneanor-Meer schlug an die nahe Küste.
    Wo waren seine Brüder? Bald wären die Netze trocken, und sein Vater würde ihn seiner flinken Finger wegen rufen. Doch er konnte sich nicht regen. Er wollte bei dem Gedanken an die Schläge, die sein Vater ihm versetzen würde, weinen, doch auch das schien gleichgültig zu sein.
    Dann zog ihn etwas über den Sand. Ein Schatten stemmte sich gegen die Sonne und zog ihn in die Finsternis uralter Kriege, hinunter nach Golgotterath…
    In ein goldenes Labyrinth der Schrecken, das größer war als jede Anlage der Nichtmenschen und wo ein Schüler, der eher ein Sohn war, ihn ängstlich und ungläubig ansah – ein Kûniürischer Prinz, der gerade erst begann, den Verrat seines Ersatzvaters zu ermessen.
    »Sie ist tot!«, rief Seswatha ihm und seiner unerträglichen Miene zu. »Für dich jedenfalls ist sie verschwunden! Und sollte sie doch noch leben, wirst du, was du findest, nicht behalten – egal, für wie groß du deine Leidenschaft hältst!«
    »Du hast es aber gesagt«, rief Nau-Cayûti mit gramverzerrtem Gesicht. »Du hast es gesagt!«
    »Ich habe gelogen.«
    »Wie konntest du das tun? Du warst der Einzige, Seswatha! Der Einzige!«
    »Weil ich mein Ziel nicht erreichen konnte«, sagte Achamian. »Nicht allein jedenfalls. Und weil das, was wir hier tun, wichtiger als Wahrheit oder Liebe ist.«
    Nau-Cayûtis Augen schimmerten im Dunkeln wie gebleckte Zähne. Seswatha wusste, dass sehr viele im Tod so ausgesehen

Weitere Kostenlose Bücher