Der tausendfältige Gedanke
hatten – Menschen wie Sranc gleichermaßen.
»Und was machen wir hier, alter Lehrer?«
»Wir suchen«, murmelte Achamian. »Nach dem Heronspeer.«
Dann spürte er Wasser auf den Lippen, Süßwasser, obwohl die Luft nach Salz roch. Murmelnde Stimmen waren zu hören. Sie klangen besorgt und mitfühlend, aber auch berechnend. Etwas strich ihm sanft über die Wangen. Er sah ein Stück Schleier und darunter das Gesicht eines kleinen Mädchens, braun und sommersprossig wie das von Esmenet. Sie zupfte an den langen Haarsträhnen, die der Wind ihr über die Lippen geweht hatte.
»Memest ka hoterapi«, gurrte eine Stimme von anderswo. Sie klang zu gesetzt, um dem Mädchen zu gehören. »Sch… sch…«
Das Meer schlug in unsichtbaren Brechern an die Küste. Er dachte an die Läuse, die ihn verlassen würden, wenn er eines unausweichlichen Tages den letzten Atemzug tat.
Wachsamkeit, echte Wachsamkeit im Sinne stiller Aufmerksamkeit stellte sich nur langsam ein. In den ersten Tagen schien er zu rotieren, als sei er an ein großes Spinnrad gebunden, das nur zum kleinen Teil aus heißem Wasser ragte. Es gab das Strohlager, auf dem er sich hin und her warf, und das düstere Zimmer, in das Mutter und Tochter mit Wasser und Schüssel und manchmal mit in Haferschleim zerstoßenem Fisch kamen, der seinen Magen wärmte. Und es gab die Alpträume, diesen zermürbenden Brei aus Verlust und Qual: eine alte Welt, die endete, ohne zu enden, in der sich unheilbare Wunden häuften und wo endlos geschrien wurde.
Er litt an jenem Fieber, an dem er vor langer Zeit einmal gelitten hatte. Er erinnerte sich noch gut daran.
Als das Fieber nachließ, war er allein und sah blinzelnd auf die Palmwedel an der Decke. Frühlingskräuter hingen gebündelt von Dachbalken, die kaum mehr als Stangen waren. Alte Netze hingen an den Wänden. Ein Haufen getrockneter Fische, die wie Sandalensohlen aussahen, lag auf dem Tisch. Durch das Krachen der Brecher hörte er die Wände im Wind ächzen und klappern. Schnüre flatterten im Luftzug. In der Ecke wirbelte ein Windstoß Spreu auf.
Daheim, dachte er – ich bin nach Hause gekommen. Und er schlief seinen ersten richtigen Schlaf.
Sprachlos stand er im Streitwagen des Königs von Kyraneas.
Seit Jahren hatte sich eine unerklärliche Ahnung von Verhängnis am Horizont abgezeichnet, ein Schrecken, der keine Gestalt, aber eine Richtung hatte… Alle Menschen spürten ihn und wussten, dass er für die totgeborenen Kinder verantwortlich war und den großen Kreislauf der Seelen unterbrochen hatte.
Nun endlich sahen sie ihn – den Knochen, der die Schöpfung ersticken würde.
Bashrag schlugen mit ihren großen Hämmern auf den Boden ein, während riesige Mengen Sranc heranwogten. Sie überschwemmten die Ebenen ringsum, kamen in Rüstungen aus Menschenhaut angerannt, kreischten wie Affen und warfen sich gegen die Wälle, die die Männer von Kyraneas aus den Trümmern von Mengedda errichtet hatten. Und hinter ihnen der Wirbelwind, ein großes, rotierendes Tau, das den graubraunen Boden urgewaltig und gleichgültig in den schwarzen Himmel sog. Dröhnend kam er immer näher, um das letzte Licht der Menschheit auszulöschen – und die Welt zu versiegeln.
Die Sturmwolken verdüsterten die Sonne mehr und mehr, und alles wurde Dämmerung und Donner. Die Sranc griffen sich an den Unterleib, fielen auf die Knie und kümmerten sich nicht um die Menschenschwerter, die auf sie einhieben. Dann hörte Seswatha die tausendkehlige Stimme Tsurumahs, des Nicht-Gottes, aus dem Mund seiner Kinder…
WAS SIEHST DU?
»Was siehst an?«, fragte Anaxophus.
Seswatha sah den König mit offenem Mund an, denn er hatte die gleichen Worte wie der Nicht-Gott gesprochen.
»Mein König…« Achamian wusste sonst nichts zu sagen.
Ringsum tobte die Schlacht. Hoch wie der Horizont näherte sich der furchtbare Wirbelwind – der wandelnde Nicht-Gott – mit so gewaltigen Schritten, dass aus den Trümmern von Mengedda Schotter und aus den Männern Staub wurde.
ICH MUSS WISSEN, WAS DU SIEHST
»Ich muss wissen, was du siehst…«
Die geschminkten Augen musterten ihn ehrlich und entschlossen, als verlangten sie eine Gunst, deren Bedeutung sich erst noch erweisen musste.
»Anaxophus!«, rief Seswatha durch den Lärm. »Den Speer! Ihr müsst den Speer nehmen!«
Das ist es doch nicht, was geschieht …
Vielstimmiges Gebrüll ertönte. Die Männer ringsum stemmten sich gegen den Wind und riefen ihre Götter an. Sand prasselte auf
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