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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Helden ihrer Erzählung plötzlich in ihrer Mitte sehen. Und dieser Held konnte alles sagen und ihre liebsten Einbildungen auf den Scheiterhaufen seines Verdikts werfen. Was sollten sie tun – die Frommen und Selbstgerechten? Was sollten sie nun tun, da ihre Heilige Schrift ihnen widersprechen konnte?
    Fast hätte Cnaiür laut gelacht, doch er senkte nur den Kopf und spuckte zwischen die Knie. Es scherte ihn nicht, ob andere an seinem Hohnlächeln Anstoß nahmen. Es ging hier nicht um Ehre, sondern um Überlegenheit, schrankenlose, hoffnungslose Überlegenheit.
    Es gab keine Ehre, es gab nur Wahrheit. Oder etwa nicht?
    Die unerträgliche Liturgie und das Gepränge, ohne das die Inrithi in Glaubensdingen offenbar nicht auskamen, begann mit Gotians Vortrag des Tempelgebets. Er stand steif da wie ein Jüngling in seinem frisch geschneidert anmutenden Gewand aus weißem Tuch, dessen komplizierter Besatz mit jeweils zwei goldenen Stoßzähnen bestickt war, die einander in einem goldenen Kreis kreuzten, ähnlich wie es auf dem Zirkumfix zu sehen war. Seine Stimme zitterte, und einmal musste er vor Ergriffenheit innehalten.
    Beklommen blickte Cnaiür im Saal umher und staunte darüber, dass diese Männer eher weinten als jubelten. Erstmals fühlte er mit allen Sinnen, welche Entschlossenheit sie antrieb.
    Er hatte sie gesehen, hatte sie auf den Feldern vor Caraskand beobachtet: ihre verrückte Entschiedenheit, die selbst seine Utemot beschämen konnte. Er hatte Männer beim Vorwärtsstolpern gekochtes Gras erbrechen sehen und beobachtet, wie andere, die kaum laufen konnten, sich in die Waffen der Heiden stürzten, nur um ihnen den Schneid abzukaufen! Er hatte Männer lächeln, ja jauchzen sehen, als die Mastodonten sie zertrampelten. Er konnte sich an den Gedanken erinnern, diese Inrithi seien das wahre Volk des Krieges.
    Cnaiür hatte es gesehen, aber nicht verstanden – jedenfalls nicht mit allen Konsequenzen. Was der Dunyain hier bewirkt hatte, würde nie ungeschehen gemacht werden. Selbst wenn der Heilige Krieg untergehen sollte: Die Kunde von diesen Ereignissen würde überleben. Tinte und Pergament würden diesen Irrsinn unsterblich machen. Kellhus hatte diesen Männern mehr als Gesten und Versprechen gegeben, sogar mehr als Verständnis und Führung. Er hatte ihnen Herrschaft über ihre Zweifel und ihre meistgehassten Feinde verliehen. Er hatte sie stark gemacht.
    Aber wie konnten Lügen all das bewerkstelligen?
    Die Welt dieser Männer war ein Fiebertraum, eine Illusion. Und doch erschien sie ihnen (das wusste Cnaiür sehr wohl) so wirklich, wie ihm seine Welt wirklich vorkam – bis auf den beunruhigenden Unterschied, dass er die Ursprünge ihrer Welt bis ins Letzte in der seinen aufspüren konnte, und zwar, weil er den Dûnyain kannte. Von allen hier Versammelten kannte nur er den trügerischen Grund unter ihren Füßen.
    Plötzlich nahm alles, was Cnaiür sah, doppelte Wirklichkeit an, als wären seine Augen einander feind geworden. Gotian hatte das Tempelgebet beendet, und einige Hohepriester des Dûnyain, seine Nascenti, hatten damit begonnen, diejenigen Niederen Herren feierlich in den neuen Glauben aufzunehmen, die beim letzten Mal zu krank dazu gewesen waren. Ein brennender Ölkessel war vor den götzenhaft reglosen Kriegerpropheten gestellt worden. Der Erste, den es aufzunehmen galt – den Zöpfen nach ein Thunyeri –, kniete neben dem Dreifuß nieder und tauschte unhörbare Gebete mit den Priestern aus, die ihres Amtes walteten. Obwohl sein Gesicht von Seuchen und Krieg übel zugerichtet war, hatte er die vor Hoffnung und Furcht weit aufgerissenen Augen eines Zehnjährigen. In fließender Bewegung tauchte der Priester eine Hand ins brennende Öl und strich damit über das Antlitz des Knienden. Einen Moment lang stand das Gesicht des Mannes in Flammen, doch dann legte ein zweiter Priester ihm ein nasses Handtuch auf. Jubel donnerte durch den Saal, und der Lehnsmann stolperte mit verklärter Miene in die Arme seiner Kameraden.
    Für die Inrithi hatte er eine immaterielle Schranke überschritten. Sie hatten eine grundlegende Verwandlung mit angesehen, hatten erlebt, wie eine gewöhnliche Seele in die Gemeinschaft der Auserwählten erhoben worden war. War er eben noch befleckt gewesen, so war er nun gereinigt. Sie hatten es mit eigenen Augen gesehen. Wer konnte das in Frage stellen?
    Für Cnaiür dagegen war hier lediglich die Schranke zwischen bloßer Narrheit und völliger Idiotie überschritten worden.

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