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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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schwachen Moschusduft, den sie stets mit Hexenkunst in Verbindung gebracht hatte. Wo früher ihr Lieblingssofa gestanden und sie zum ersten Mal den Traktat gelesen hatte, war nun ein Bett aufgestellt.
    »Sie ist sogar ins Scheyische übersetzt worden«, sagte er und schürzte anerkennend die Lippen. »Für Kellhus?«
    »Nein… für mich.«
    Sie hatte das mit Stolz sagen wollen, doch es hatte boshaft geklungen. »Er hat mich lesen gelehrt«, fuhr sie vorsichtig fort. »Und das sogar während des Wüstenelends.«
    Achamian erbleichte. »Er hat dich lesen gelehrt?«
    »Ja… stell dir vor – er hat einer Frau das Lesen beigebracht.«
    Er zog ein finsteres, offenkundig verwirrtes Gesicht.
    »Die alte Welt ist tot, Akka. Die alten Regeln sind tot… Aber das weißt du sicher.«
    Er blinzelte frappiert, und sie begriff, dass ihr Ton, nicht ihre Worte ihn finster hatten blicken lassen. Achamian hatte sie nie um ihr Frausein beneidet.
    Er sah auf die geprägten Buchstaben des Einbands und strich mit einer seltsamen, liebenswerten Geste der Verehrung über die Lettern. »Ajencis ist ein alter Freund von mir«, sagte er und hielt ihr das Buch hin. Diesmal war sein Lächeln aufrichtig, aber ängstlich. »Geh behutsam mit ihm um.«
    Sorgfältig darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, nahm sie das Buch entgegen und schluckte, um den Kloß in der Kehle loszuwerden.
    Sie blickten einander kurz in die Augen. Esmenet überlegte, ein Wort des Dankes oder einen dummen Witz zu murmeln, wie sie es früher oft getan hatte, um Verbindlichkeit herzustellen. Stattdessen ging sie zur Tür und hielt dabei den Lederband an die Brust gepresst. Es gab einfach zu viel alte… Behaglichkeit zwischen ihnen, zu viele Gewohnheiten, die sie in seine Arme treiben würden.
    Und das wusste er. Er bediente sich dieser Gewohnheiten geradezu!
    Er rief ihren Namen. Sie blieb an der Schwelle stehen und drehte sich um. Seine verzweifelte Miene ließ sie die Augen senken. »Ich…«, begann er. »Ich war dein Leben… Das weiß ich, Esmi.«
    Sie biss sich auf die Unterlippe und widerstand dem Drang zu lügen.
    »Ja«, sagte sie, musterte ihre blau bemalten Zehen und beschloss aus einem seltsamen Impuls heraus, Yel morgen die Farbe wechseln zu lassen.
    Was bedeutet er schon noch? Sein Herz war längst gebrochen, bevor…
    »Ja«, wiederholte sie, »du warst mein Leben.« Als sie das Gesicht hob, tat sie es müde und nicht grausam, wie sie erwartet hatte. »Und er ist meine Welt.«
    Sie ließ den Blick von seiner breiten Brust und seinem Bauch über das flaumige Gold seines Schamhaars bis zu seinem kaum verhüllten Glied gleiten. Stets schien er riesig, wenn sie ihre Wange an seine Schulter legte – wie eine neue Welt, die verführerisch, aber auch erschreckend war.
    »Ich habe ihn heute Abend getroffen.«
    »Ich weiß… Du warst erzürnt.«
    »Nicht seinetwegen.«
    »Seinetwegen.«
    »Aber warum? Was hat er getan, außer mich zu lieben?«
    »Wir haben ihn verraten, Esmi. Du hast ihn verraten.«
    »Aber du hast gesagt…«
    »Es gibt Sünden, die nicht einmal Gott vergeben kann, sondern nur der Verletzte.«
    »Was soll das heißen?«
    »Dass er dich deshalb erzürnt hat.«
    Es war immer dasselbe mit ihm: dieses schier übermenschliche Erinnerungsvermögen. Es war, als schräke sie – wie alle Männer, Frauen und Kinder – jeden Moment hoch und sähe sich gestrandet, und nur er könnte ihr erklären, was geschehen war.
    »Er wird nicht vergeben«, flüsterte sie.
    Er wirkte unentschlossen. Das geschah so selten, dass es ihr Angst machte. »Er wird nicht vergeben.«
     
     
    Der Hochmeister der Scharlachspitzen drehte sich benommen um. Er war betrunken. »Du lebst«, sagte er.
    Iyokus stand sprachlos an der Schwelle. Eleäzaras sah, wie er die zerschlagene Keramik und den geronnenen Wein betrachtete. Er schnaubte weder amüsiert noch angewidert, wandte sich ab und sah über die Balustrade zum Fama-Palast, der graubraun und unergründlich auf dem Hügel lag.
    »Als Achamian zurückkam«, sagte er schleppend, »dachte ich, du wärest tot.« Er beugte sich vor, drehte sich dann aber noch mal um. »Mehr noch«, fuhr er fort und hob den Finger, »ich hoffte sogar, du wärest tot.« Er blickte erneut auf die Mauern und Gebäude auf den gegenüberliegenden Anhöhen.
    »Was geht hier vor, Eli?«
    Er gab sich alle Mühe, nicht zu lachen. »Siehst du das nicht?
    Der Padirajah ist tot. Der Heilige Krieg bereitet sich darauf vor, auf Shimeh zu marschieren – also auch

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