Der tausendfältige Gedanke
Umständen aufrechterhalten.«
»Das ist nicht wahr!«, rief Conphas und sprang auf.
»Nein? Dann sagt mir doch, Oberbefehlshaber, wie oft Ihr Euch für einen Gott gehalten habt.«
Conphas fuhr sich mit der Zunge über die zusammengekniffenen Lippen. »Niemals.«
Der Kriegerprophet wiegte zweifelnd den Kopf. »Ihr seid in einer seltsamen Lage, nicht wahr? Um mir gegenüber Euren Stolz zu bewahren, müsst Ihr die Schmach des Lügens ertragen. Ihr müsst verbergen, wer Ihr seid, um zu beweisen, wer Ihr seid. Ihr müsst Euch erniedrigen, um stolz bleiben zu können. Gerade jetzt spürt Ihr das deutlicher als jemals zuvor, und doch weigert Ihr Euch nachzugeben und beugt Euch lieber Eurem quälenden Stolz. Ihr zieht die Qual, die Qual vermehrt, der Qual vor, die Erlösung stiftet. Immer wieder seid Ihr stolz auf das, was Ihr nicht seid, statt auf das stolz zu sein, was Ihr seid.«
»Ruhe!«, schrie Conphas. »So spricht keiner mit mir! Keiner!«
»Scham ist Euch fremd, Ikurei Conphas, unerträglich fremd.«
Mit wildem Blick musterte Conphas die Mienen um ihn herum. Weinen klang durch den Saal – das Weinen von Männern, die sich in den Worten des Kriegerpropheten erkannt hatten. Cnaiür sah genau hin und hörte aufmerksam zu. Seine Haut prickelte vor Anspannung, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Normalerweise hätte ihm die Erniedrigung des Oberbefehlshabers große Genugtuung bereitet, aber hier ging es um etwas anderes: Scham ragte wie ein wildes Tier über ihnen auf, verschlang alle Gewissheit und wickelte ihre kalten Schlingen selbst um die mutigsten Seelen.
Wie macht er das nur?
»Erlösung«, sagte der Kriegerprophet, als wäre dieses Wort der einzige Ausweg. »Alles, was ich Euch anbiete, Ikurei Conphas, ist Erlösung.«
Der Oberbefehlshaber stolperte einen Schritt zurück, und kurz schien es, als wollten seine Beine nachgeben, als würde der Neffe des Kaisers auf die Knie sinken. Dann aber drang ein seltsames Lachen aus seiner Kehle, das den Versammelten beinahe das Blut gefrieren ließ, und ein unbekannter Wahnsinn zuckte über Conphas’ Antlitz.
»Hört auf ihn!«, stieß Gotian schmerzlich hervor. »Begreift Ihr denn nicht? Er ist der Prophet!«
Conphas sah den Hochmeister verständnislos an. Angesichts seiner starren Miene wirkte seine Schönheit noch erstaunlicher.
»Ihr seid hier unter Freunden«, sagte Proyas, »unter Brüdern.«
Gotian und Proyas – andere Männer, andere Worte. Die Worte des Proyas brachen offenbar den Bann, in den die Stimme des Dunyain Conphas wie Cnaiür gleichermaßen gezogen hatte.
»Unter Brüdern?«, knurrte der Oberbefehlshaber. »Sklaven bin ich kein Bruder! Ihr denkt, er kenne euch und spreche den Menschen aus der Seele, doch das tut er nicht! Glaubt mir, Brüder – wir Ikurei wissen einiges über Worte und ihre Wirkung auf Menschen. Er manipuliert euch, und ihr merkt es nicht. Er nagelt euch eine ›Wahrheit‹ nach der anderen ins Herz, um euch immer besser kontrollieren zu können!
Ihr seid für ihn nichts als Spielbälle! Sklaven seid ihr! Ich darf gar nicht daran denken, dass ich mich einst glücklich schätzte, in eurer Gesellschaft zu sein!« Er wandte den Hohen Herren den Rücken zu und drängte sich zum Ausgang.
»Halt!«, rief der Dunyain mit donnernder Stimme.
Alle zuckten zusammen, sogar Cnaiür. Conphas stolperte, als sei er von etwas getroffen worden. Hände packten ihn, drehten ihn um und stießen ihn wieder vor die Augen des Kriegerpropheten.
»Tötet ihn!«, rief jemand rechts von Cnaiür.
»Abtrünniger!«, schallte es von den Bänken darunter.
Überall wurde schrille Empörung laut. Fäuste fuhren durch die Luft. Conphas sah eher verblüfft als erschrocken um sich – wie ein Junge, der von einem geliebten Onkel geschlagen wird.
»Stolz«, sagte der Kriegerprophet und brachte damit den Saal zum Schweigen, wie ein Zimmermann Sägemehl von der Werkbank fegt. »Stolz ist eine Krankheit… Für die meisten ist er ein Fieber, eine ansteckende Krankheit, deren Ursprung der Ruhm anderer ist. Bei einigen aber – auch bei Euch, Ikurei Conphas – ist er ein Geburtsfehler. Euer ganzes Leben über habt Ihr Euch gefragt, was die Menschen um Euch herum antreibt. Warum verkauft ein Vater sich in die Sklaverei, um seine Kinder zu ernähren? Warum unterwirft ein junger Mann sich den Geboten des Stoßzahns und tauscht die Annehmlichkeiten seines Standes gegen eine karge Zelle und seine Befehlsgewalt dagegen, dem Tempelvorsteher jederzeit dienstbar
Weitere Kostenlose Bücher