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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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der Scylvendi die Steppe auf der Suche nach sandigem Boden, auf dem das Gras schneller wuchs. Wenn der Regen stärker wurde, trieben sie ihre Herden auf härtere Böden, wo das Gras langsamer wuchs, aber länger grün blieb. Wenn die heißen Winde die Wolken schließlich vom Himmel fegten, folgten sie einfach dem Futter und suchten nach wilden Kräutern und kurzem Gras, die das zarteste Fleisch und die beste Milch ergaben.
    Dabei blieb immer der eine oder andere Hirte auf der Strecke – vor allem diejenigen, die zu gierig waren, um eigensinnige Tiere aus der Herde zu nehmen. Halsstarriges Vieh konnte eine ganze Herde in überweidete Gebiete oder von Schädlingen befallene Gegenden führen. Jedes Jahr kam ein Dummkopf ohne Pferd oder Vieh vom langen Zug durch die Steppe zurück.
    Cnaiür wusste inzwischen, dass er dieser Dummkopf war.
    Ich habe ihm den Heiligen Krieg gegeben.
    Im Ratssaal des toten Sapatishah saß Cnaiür in einer der oberen Reihen, die den Ratstisch umgaben, musterte den Dunyain und bemühte sich, den Inrithi auf den Sitzen ringsum keine Beachtung zu schenken. Dabei wurde er aber fortwährend angesprochen, ja beglückwünscht. Ein närrischer Lehnsmann aus Ce Tydonn besaß sogar die Frechheit, ihm das Knie zu küssen – das Knie! Immer wieder riefen sie »Scylvendi!«, als wollten sie ihm damit ihre Ehrerbietung erweisen.
    Der Kriegerprophet saß zwischen den von der Decke hängenden, schwarzgoldenen Bannern auf einem eigens errichteten Podium, sah also auf die am Ratstisch versammelten Hohen Herren herab. Sein Bart war geölt und geflochten, sein flachsblondes Haar fiel ihm auf die Schultern. Unter seiner steifen, knielangen Robe trug er ein weißes Seidengewand, das mit Silberblättern und grauen, sich verzweigenden Ästen bestickt war. Im Licht der Kohlenbecken, die um ihn herum aufgestellt waren, wirkte er durchsichtig, fast übernatürlich: ganz und gar wie der andersweltliche Prophet, der er zu sein behauptete. Sein leuchtender Blick wanderte durch den Saal und sorgte dort, wo er verweilte, für Flüstern und tiefes Luftholen. Zweimal ruhte sein Augenmerk auf Cnaiür, der jedes Mal wegsah und sich darüber bitter ärgerte.
    Der Hexenmeister – dieser weichherzige Clown, den alle für tot gehalten hatten – stand vor dem Podium zur Linken des Dûnyain. Er trug eine knöchellange, tiefrote Weste über einem weißen Leinenkittel. Anders als die Übrigen war er immerhin nicht aufgedonnert wie die Konkubine eines Sklavenhändlers. Aber seinen Blick erkannte Cnaiür wieder: Auch er schien nicht recht an das Los glauben zu können, das ihm das Schicksal zugeteilt hatte. Der Häuptling hatte Uranyanka, der eine Reihe unter ihm saß, sagen hören, Drusas Achamian sei jetzt der Wesir des Kriegerpropheten, sein Lehrer und Beschützer also.
    Egal, was er war – im Vergleich zum ausgezehrten Adel der Inrithi wirkte er schamlos übergewichtig. Vielleicht, dachte Cnaiür, braucht der Dûnyain einen massigen Körper als Schutz gegen Angriffe der Rathgeber oder der Cishaurim.
    Die Hohen Herren saßen wie früher am Tisch, nun aber ohne den Hochmut, der ihrem Stand eignete. Waren die Edelleute des Heiligen Kriegs einst zankende Könige gewesen, so waren sie jetzt nicht viel mehr als Berater, und das wussten sie. Meistens schwiegen sie nachdenklich. Gelegentlich flüsterte einer seinem Nachbarn etwas ins Ohr, aber das war es auch schon.
    Im Laufe eines einzigen Tages war die Welt dieser Männer in den Grundfesten erschüttert, ja umgestürzt worden. Darüber ließ sich einerseits staunen, wie Cnaiür nur zu gut wusste, doch es rief andererseits auch eine beinahe lächerliche Ungewissheit hervor. Erstmals standen sie auf weglosem Gebiet und sahen alle den Dûnyain an, damit er ihnen den Weg zeige. Ähnlich hatte Cnaiür einst Moënghus angeschaut.
    Während die letzten Niederen Herren in den ansteigenden Reihen nach Plätzen suchten, ging das gedämpfte Murmeln in ein gespanntes Schweigen über. Die Atmosphäre unter der Kragsteinkuppel schien bleischwer vor allgemeinem Unbehagen. Cnaiür begriff, dass die Gegenwart des Kriegerpropheten für diese Männer zu viel Unantastbares zusammenbrechen ließ. Wie konnten sie noch reden, ohne zu beten? Wie widersprechen, ohne Gott zu lästern? Selbst das Vorhaben, ihn beraten zu wollen, würde als Überheblichkeit erscheinen.
    Unter dem Schutz ihrer unerhörten Gebete hatten sie sich für fromm gehalten. Nun aber waren sie erstaunt wie prahlende Schwätzer, die den

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