Der tausendfältige Gedanke
Er hatte ein Instrument gesehen, keinen heiligen Ritus – einen Mechanismus, der ihn an die komplizierten Mühlen in Nansur denken ließ und es dem Dûnyain erlaubte, diese Männer in etwas zu zermahlen, das er verdauen konnte. Auch das hatte er mit eigenen Augen gesehen.
Anders als die Inrithi stand er nicht im täuschenden Bannkreis des Dûnyain. Während sie die Dinge von innen sahen, sah er sie von außen: Er sah mehr. Es war seltsam, dass Überzeugungen ein Innen und ein Außen haben konnten und es sich bei dem, was von innen wie Hoffnung, Wahrheit oder Liebe aussah, von außen betrachtet um eine Sense oder einen Hammer handeln konnte, um Dinge also, die zu ganz anderen Zwecken gebraucht wurden.
Um Werkzeuge.
Cnaiür holte tief Luft. Dieser Gedanke hatte ihn einst gequält. Es war der Gedanke zuviel gewesen.
Er beugte sich mit auf die Knie gestützten Ellbogen vor und beobachtete geistesabwesend, wie die Posse ihren Lauf nahm.
Proyas hatte ihm einmal gesagt, die Inrithi glaubten, es sei das Schicksal des Menschen, nach den durchschaubaren oder undurchschaubaren Plänen jener zu leben, die bedeutender waren als sie. Und in diesem Sinne – das sah Cnaiür nun – war Kellhus tatsächlich ihr Prophet. Sie waren, wie die Geschichtssänger versicherten, willige Sklaven, die stets danach strebten, jeden Wunsch zu unterdrücken, der sie nach selbstgewählten Zielen streben hieß. Dass die Pläne und damit die Wege, denen sie zu folgen behaupteten, ihren Ursprung im Jenseits hatten, diente schlicht ihrer Eitelkeit und erlaubte ihnen, sich in einer Weise zu erniedrigen, die auch noch ihren maßlosen Stolz schürte. Laut den Geschichtssängern gab es keine schlimmere Gewaltherrschaft als die, die Sklaven über Sklaven ausübten.
Doch nun war der Sklavenhändler unter ihnen. Was machte es schon, Menschen zu versklaven, die Gefangene ihrer Illusionen sind?, hatte Kellhus ihn einst beim Durchqueren der Steppe gefragt. Es gab keine Ehre, nur Überlegenheit. An Ehre zu glauben hieß, innerhalb dieses Kreises zu stehen und mit Sklaven und Narren zu verkehren.
Die Zeremonie war beendet, und Saubon, der designierte König von Caraskand, erhob sich, denn der Kriegerprophet forderte Rechenschaft von ihm.
»Ich werde nicht marschieren«, sagte der Prinz von Galeoth mit Grabesstimme. »Caraskand gehört mir. Ich werde es nicht aufgeben – und sollte ich dafür verdammt werden.«
»Aber der Kriegerprophet verlangt, dass Ihr marschiert«, rief der silberhaarige Gotian und sprach »Kriegerprophet« so erregt und unmännlich aus, dass sich Cnaiür die Haare sträubten. Der Hochmeister der Tempelritter – vor Sarcellus’ Entlarvung der unerbittlichste Gegner des Dunyain – war zu seinem leidenschaftlichsten Anhänger geworden. Dieser Wankelmut vertiefte Cnaiürs Verachtung für diese Männer nur.
»Ich werde nicht marschieren«, wiederholte Saubon wie aus einem Alptraum heraus. Der Prinz von Galeoth besaß, wie Cnaiür jetzt erst bemerkte, tatsächlich die Kühnheit, bei dieser besonderen Sitzung seine Eisenkrone zu tragen. Obwohl er groß und sonnenverbrannt war und vor kriegerischer Gesundheit strotzte, nahm er sich neben dem Kriegerpropheten wie ein Jüngling aus, der König spielte. »Ich habe diese Stadt mit eigener Hand eingenommen und werde sie nicht mehr hergeben!«
»Gütiger Sejenus!«, rief Gothyelk. »Mit eigener Hand? Und ein paar Tausend anderen Händen!«
»Ich habe die Tore geöffnet!«, gab Saubon grimmig zurück. »Ich habe die Stadt dem Heiligen Krieg überbracht!«
»Ihr habt herzlich wenig überbracht, was Ihr nicht behalten habt«, stichelte Lord Chinjosa. Er sah beim Reden spöttisch auf die Eisenkrone und lächelte süffisant, als erinnerte er sich eines Witzes, der im Verborgenen die Runde gemacht hatte.
»Kopfschmerzen«, ergänzte Gothyelk und ballte die Faust. »Er hat so manchem Kopfschmerzen gebracht…«
»Ich verlange nur, was mir von Rechts wegen zusteht!«, knurrte Saubon. »Proyas – Ihr wolltet mich unterstützen, Proyas!«
Der Prinz von Conriya warf dem Dunyain einen kurzen, unsicheren Blick zu und musterte dann den Möchtegernkönig von Caraskand. Während der Belagerung hatte er es abgelehnt, mehr zu essen als seine Männer, und war nun abgemagert. Auch sah er älter aus, weil er sich den Bart rechteckig wachsen ließ, wie es in der Vätergeneration seiner Landsleute üblich gewesen war. »Ich werde mein Wort nicht brechen, Saubon.« Unentschlossenheit ließ seine edlen Züge
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