Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
Vom Netzwerk:
Erinnerung, was ihr träumt. Erinnert euch der alten Irrtümer. Handelt nicht aus Einbildung oder Unwissen.«
    Es gab wieder eine Pause. Dann hörte Achamian: Ist das alles?
    Das ist –
    Was? Will er damit andeuten, dieser Krieg gehöre ihm? Wer ist er schon – verglichen mit dem, was wir wissen und träumen?
    Alle Menschen sind geizig, dachte Achamian. Sie unterscheiden sich nur darin, welchen Gegenständen ihre Habsucht gilt.
    Er ist der Kriegerprophet, Nautzera.



5. Kapitel
     
    JOKTHA
     
     
     
    Ihm nachzugeben heißt, ihn zu vermehren. Ihn zu bestrafen heißt, ihn zu nähren. Irrsinn kennt nur einen Zaum: das Messer.
     
    Sprichwort der Scylvendi
     
     
    Wenn andere sprechen, höre ich nur Papageiengeschrei. Doch wenn ich spreche, kommt es mir vor, ab würde Unerhörtes kundgetan. Jeder ist der Maßstab des anderen – wie verrückt oder eitel er auch sein mag.
     
    Hatatian: Ermahnungen
     
     
     
    JOKTHA, VORFRÜHLING 4112
     
    Seltsam, dieses Gefühl – merkwürdig kindlich. Doch als Ikurei Conphas in seinem Gedächtnis forschte, konnte er keine ähnliche Kindheitserinnerung finden. Es war, als sei er unter der Haut – am Herzen oder gar an der Seele – verletzt worden. Eine eigenartige Zerbrechlichkeit lag in jedem seiner Blicke und Worte. Er traute seiner Miene nicht mehr… Es war, als habe man ihm bestimmte Muskeln entfernt.
    »Bei einigen aber ist Stolz ein Geburtsfehler… «
    Was mochte das bedeuten?
    Seine Männer waren auf einem brachen Hirsefeld vor den Mauern von Caraskand entwaffnet worden. Es gab keine Zwischenfälle, obwohl Conphas beim Zusehen die Zähne so fest zusammenbiss, dass er sie beinahe gesprengt hätte. Soldaten, die sonst im Schlaf in Formation marschieren konnten, verstanden plötzlich die einfachsten Befehle nicht mehr. Stunden vergingen, bis alle Einheiten gezählt und entwaffnet waren. Danach sahen seine der Rüstung und Insignien beraubten Kolonnen kaum besser aus als ein Haufen Bettler. Zahllose Zuschauer johlten von den Mauern.
    Nersei Proyas ritt die vorderen Reihen ab und rief alle, die sich dem Kriegerpropheten verschrieben hatten, auf, die Truppen des Conphas zu verlassen. »Unsere Herkunft«, rief er, »bestimmt uns nicht länger. Die Sitten unserer Väter bestimmen uns nicht länger. Wir gehorchen den Geboten der Vergangenheit nicht mehr… Das Schicksal, nicht die Geschichte, ist unser Herr und Meister!«
    Nach einem Augenblick schuldbewusster Unschlüssigkeit drängten sich die ersten Überläufer zwischen ihren orthodoxen Waffenbrüdern hindurch. Die Verräter sammelten sich hinter Proyas, einige frech, andere stumm, und einen Moment lang schien es, als würden sich die Truppen in einem Massenexodus auflösen. Conphas sah mit versteinerter Miene und revoltierenden Eingeweiden zu. Dann plötzlich, als wäre ein stummes Horn ertönt, war das Überlaufen zu Ende. Conphas traute seinen Augen kaum: Die Reihen blieben intakt. Weniger als ein Fünftel seiner Soldaten hatte die Truppe verlassen. Weniger als ein Fünftel!
    Verärgert galoppierte Proyas zwischen den Formationen hindurch und rief: »Ihr seid Männer des Stoßzahns!«
    »Wir sind Kämpfer vom Kiyuth!«, schrie jemand mit Ausbilderstimme.
    »Wir folgen dem Löwen!«, tönte ein anderer.
    »Dem Löwen!«
    Einen Herzschlag lang traute Conphas seinen Ohren kaum. Dann brüllten die hartherzigen Überlebenden der Kolonnen Selial und Nasueret ihre Zustimmung heraus. Das Rufen ging weiter und wurde verzweifelter und zorniger. Ein Stein traf Proyas’ Helm. Der Prinz zog sich zurück und fluchte vor Wut.
    Conphas hob den Unterarm zum Kaiserlichen Gruß, und seine Männer taten es ihm in donnernder Erwiderung nach. Tränen standen in seinen Augen. Der Schmerz seiner Demütigungen ließ nach – erst recht, als Proyas die Bedingungen vorlas, die der Kriegerprophet verfügt hatte.
    Conphas konnte seine Freude kaum verhehlen. Offenbar war es den Scharlachspitzen gelungen, via Carythusal eine Nachricht an ihre Botschaft in Momemn und von dort an Xerius zu senden. Also war ein Gewaltmarsch durch Khemema – der nicht nur riskant gewesen wäre, sondern auch seinen Zeitplan ernsthaft gefährdet hätte – nicht mehr erforderlich. Stattdessen würden er und der Rest seiner Truppen in Joktha interniert werden und dort auf eine Frachtschiffflotte warten, die sein Onkel entsandt hatte.
    Es schien egal, wer die Zahlenstäbe warf – er hatte stets das bessere Ende für sich.
    Der Marsch am Ufer des Oras in Richtung Joktha

Weitere Kostenlose Bücher