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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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denen die Ambitionen der Nansur immer wieder zerschellt waren. Hatte er es nicht selbst gesagt? Er war Kyraneas. Er war Cenei.
    Kein Wunder, dass der Wilde gelacht hatte!
    Hier hatten die Götter die Hände im Spiel – dessen war Conphas sich gewiss. Sie missgönnten ihrem Bruder den Erfolg. Sie waren eingeschnappt, als wäre er bloß ihr Stiefbruder. Darin lag eine Botschaft – wie sollte es anders sein? Er hatte eine Warnung bekommen. Er war nun Kaiser. Ein Zug war gemacht worden, und die Regeln hatten sich einmal mehr geändert…
    Warum hatte er diesen Dämon nicht getötet? Welches Laster, welche Eitelkeit hatte seine Hand zurückgehalten? Die eiserne Hand etwa, mit der Cnaiür ihn am Genick gepackt hielt, als er Conphas die Entwürdigung der gefangen genommenen Kämpfer seines Volkes vor der Schlacht am Kiyuth höchstpersönlich heimgezahlt hatte?
    »Sompas!«, schrie er geradezu.
    »Ja, gottgleicher Kaiser?«
    »Wie gefällt dir der Titel Oberbefehlshaber?«
    Der Undankbare schluckte. »Sehr gut, gottgleicher Kaiser.«
    Wie sehr Conphas Martemus und den kühlen Zynismus seines Blicks vermisste! »Nimm alle Kidruhil und bring diesen Dämon für mich zur Strecke, Sompas. Bring mir seinen Kopf, und du wirst Oberbefehlshaber und Speer des Kaiserreichs.« Conphas’ Augen wurden schmal, als er lächelnd fortfuhr: »Wenn du mich aber enttäuschst, werde ich dich, deine Söhne und Frauen und jeden Biaxi verbrennen, und zwar bei lebendigem Leib.«
    Sie führten ihre Pferde durch die pechschwarze Nacht und vertrauten dabei auf Serwës übernatürliches Sehvermögen. Die Entfernung, die sie bis Sonnenaufgang hinter sich brachten, war ihr einziger Vorteil. Ihr Weg führte sie durch hohes Gestrüpp und über begraste Hänge, dann in ein bewaldetes Tal, wo der bittere Geruch von Zedern in der Luft hing. Trotz seiner Verletzungen trottete Cnaiür hinterdrein und griff dabei auf seine unerschöpflichen Ressourcen an Lust und Angst zurück. Die Welt ringsum drehte sich immer schneller, und einfache Dinge schienen sich absichtlich ins Alptraumhafte zu verwandeln: Düstere Bäume griffen nach ihm und zogen ihm Nägel über Wangen und Schultern; unsichtbare Steine traten nach seinen Zehen; der von einem Hof umgebene Mond ängstigte ihn.
    Seine Gedanken verschwammen. Ständig spuckte er Blut. Der undeutliche Kieselpfad glitt unter seinen schwankenden Beinen dahin. Eine noch tiefere Dunkelheit breitete sich aus, und er verlor jede Erinnerung. Er fragte sich nur, wie Seelen flackern konnten.
    Dann sah Serwë auf ihn hinunter, und er spürte ihre Schenkel, die sich durch den leinenen Uniformrock fest und warm anfühlten, unter seinem Genick. Sie beugte sich vor, wobei ihre Brust seine Schläfe streifte, nahm einen Wasserschlauch und befeuchtete einen Lappen. Offenbar kümmerte sie sich bereits seit einiger Zeit um die Schnitte in seinem Gesicht.
    Sie lächelte, und unwillkürlich begann er, stoßweise zu atmen. Ein Frauenschoß bot eine Zuflucht und Stille, die die Welt mit all ihrer peitschenden Wut klein erscheinen ließ. Er zuckte zusammen, als sie eine Schnittwunde über seinem linken Auge betupfte, und genoss das kalte Wasser, das sich auf seiner Haut erwärmte.
    Das Schwarz der Nacht wurde langsam grau. Er schaute auf, sah, dass ihr Haar ihren Unterkiefer verhüllte, und wollte es schon beiseite streichen, zögerte aber, als er den Schorf auf seinen Knöcheln bemerkte. Er wurde unruhig. Obwohl der Schmerz seiner Wunden überwältigend war, richtete er sich mit einem Ruck auf, hustete und spuckte blutigen Speichel. Sie saßen auf einer grasigen Anhöhe. Noch war die Sonne unsichtbar, doch im Osten wurde es bereits warm. Gestaffelte Höhenkämme – düster, wo sie bewachsen waren, bleich, wo nackte Felswände aufragten – erstreckten sich bis zum Horizont.
    »Ich vergesse etwas«, sagte er.
    Sie nickte und lächelte so unbekümmert und strahlend wie immer, wenn sie eine Antwort wusste.
    »Den Mann, den du jagst«, sagte sie. »Den Mörder.«
    Er spürte, wie sein Gesicht sich verdüsterte. »Aber der Mörder bin ich! Der grausamste Kämpfer auf Erden! Die anderen schlurfen in Ketten voran und äffen ihre Väter nach, wie diese ihre Väter nachäfften seit Anbeginn. Ob nachbarschaftliche oder Blutsbande: ich bin aufgestanden und habe festgestellt, dass meine Ketten sich in Rauch aufgelöst hatten. Ich habe mich umgedreht und die Leere gesehen… Ich bin frei!«
    Sie musterte ihn einen Moment lang, und auf ihrem vollkommenen

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