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Der Tee der drei alten Damen

Der Tee der drei alten Damen

Titel: Der Tee der drei alten Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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sich auf die Hinterpfoten und legte die Vorderpfoten sanft, aber nachdrücklich auf des Schweigsamen Knie. Dann trat die Zunge in Aktion, und Nydeckers Hände wurden von einer Zärtlichkeitsflut überschwemmt. Dazu stieß Ronny kleine Töne aus, die wie das kunstlose Singen eines gesättigten Säuglings klangen. Das wirkte. Nydecker kehrte zurück aus seinem verwunschenen Reich, seine Augen wurden klarer, eine nicht genau festzustellende Veränderung ging mit seinen Gesichtszügen vor sich. Wohl blieben die Falten und Fältchen am gleichen Ort, aber Leben erhielten sie plötzlich, ein Leben, das wie ein feiner, ungreifbarer Stoff aus allen Poren zu sickern schien. Er blickte Madge an.
    »Professor!« wiederholte Madge, scharf akzentuiert.
    »Der Apostel Petrus«, sagte Nydecker singend, während ein weiches Lächeln auf seinen Lippen erschien. »Der Apostel Petrus«, wiederholte er, und schien sich gar nicht mehr an das Spiel zu erinnern, das man mit ihm gespielt hatte, sondern er träumte den Bildern nach, die, Seifenblasen gleich, vor seinen Augen aufstiegen und zerplatzten. »Er schreibt, er schreibt. Er schreibt die Namen auf mit kleiner Schrift, und die Fliegen klettern über das Papier. Nicht nur die Namen. Auch die Tatenworte. Er sagt, und der Apostel Petrus streicht seinen Bart, er sagt: ›Armer Pierre, jetzt hat sie dich in die Falle gelockt, die Hexe, trink nicht, armer Pierre, komm zu mir. Der Teufel traut sich nicht an mich heran. Bei mir bist du sicher! Aber die Hexe lockt. Sie hat kleine Münze in der Hand, und die ist heilig, um ihren Kopf summen sie, summen sie. Und sie stechen, wenn Monsieur Pierre nicht trinken will. Der Tee ist bitter, ganz bitter ist der Tee.‹ ›Bitter ist das Vergessen‹, sagt die Hexe, die dicke Hexe.«
    Nydecker war erschöpft. Der Hund Ronny hatte sich vor ihm auf den Hinterteil gesetzt, blickte stolz im Zimmer herum, so, als wollte er sagen: ›Ich habe ihn zum Reden gebracht, seht ihr? Wenn ich nicht wäre!‹
    Madge räusperte sich und tupfte O'Key auf die Achsel.
    »Die kleine bürgerliche Seele, die seßhafte Seele, sie hat den Klimawechsel nicht vertragen. Ich weiß nicht, warum mich der kleine Nydecker mit der roten Nase so dauert. Ich finde es eigentlich grausam, an ihm herumzuexperimentieren, aber was sollen wir anderes machen? Wir müssen doch den Leuten auf die Spur kommen, die hier in Genf Seuchen, seelische Seuchen und seelischen Tod verbreiten. Finden Sie nicht auch?«
    Wir bringen Madges Worte natürlich übersetzt, sie flüsterte dies alles in ihrer Muttersprache.
    »Die Hexe«, sagte O'Key, »hat sich eigentlich der Professor früher mit Psychiatrie beschäftigt?« fragte er.
    Madge stutzte. »Warten Sie. Der Direktor hier hat mir einmal etwas Derartiges erzählt. Vor zwanzig Jahren, glaub ich, hat Dominicé hier Assistentendienste getan. Das war noch unter dem Vorgänger des jetzigen Direktors, einem trockenen Materialisten, und die Sage raunt, es habe zwischen diesem Materialisten und unserem Professor eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Dominicé habe eigenartige Kuren versucht, die damals als verrückt galten, Dauerschlafkuren, acht bis zehntägige, mit derart massiven Schlafmitteldosen, daß sich den damaligen Medizinern die Haare sträubten. Jetzt machen wir solche Kuren sehr viel, sie sind aus Deutschland gekommen. Und dann scheint der Professor damals sehr sonderbare Theorien über die Beziehungen von Seele und Körper gehabt zu haben. Irrsinn, habe er gemeint, sei erstens eine Vergiftungserscheinung, zweitens eine Besessenheit. Die Vergiftung des Organismus bewirke eine Schwächung desselben, so daß dann fremde Mächte von der Person des Kranken Besitz ergreifen können. Die Exorzismen des Mittelalters seien durchaus kein Aberglaube…«
    »Besessenheit…«, murmelte O'Key geistesabwesend. »Vergiftung…, Besessenheit. Das…, das… ist ja die Brücke.«
    »Es könnte die Brücke sein, ich weiß schon, was Sie meinen, O'Key. Die Erklärung, warum der Professor nicht sprechen will. Die ›Privatangelegenheiten‹. Er ist zu anständig und will niemand verraten. Übrigens hat der kleine Nydecker das recht hübsch gesagt: Der Apostel Petrus, der in ein großes Buch schreibt, und die Fliegen klettern über das Papier. Sie kennen doch Dominicés Schrift.«
    »Mhm«, sagte O'Key, »wollen wir noch das letzte Wort versuchen?«
    »Sting, don't sting, hat Crawley immer gesagt, bevor er gestorben ist. Wollen wir das Wort wirklich

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