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Der Tee der drei alten Damen

Der Tee der drei alten Damen

Titel: Der Tee der drei alten Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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versuchen?«
    Madge schien Angst zu haben, sie stand auf und ging mit kurzen Schritten im Zimmer auf und ab. O'Key lachte, aber das Lachen klang nicht ganz natürlich. Er haschte nach Madges Hand, küßte sie zärtlich, und Madge ließ es sich gern gefallen. Sie blieb stehen und lehnte sich an O'Key. Da hörten sie vor dem Fenster eine Stimme, die leise sang. Es klang wie ein gregorianisches Kirchenlied.
    Ein Gewitter mochte im Anzuge sein, denn es wurde dämmerig. Es war unerträglich schwül. Eine riesige, bleigraue Wolke stand über den Kugelakazien, die Vögel hatten ihr Konzert eingestellt. Und während die Stimme draußen leise weiter sang (O'Key und Madge hörten sie wohl, aber nur wie ein belangloses Geräusch, dem man keine Bedeutung zumißt), veränderte sich Nydeckers Haltung. Er saß da, vorgebeugt, starr, angespannt. Seine Augen glänzten. Der Mund war ein schmaler Strich. Die Stirne schimmerte feucht.
    »Stechen«, sagte Madge.
    »Nicht, nicht!« kreischte Nydecker. »Zimmer, dunkel, dunkel. Und das blaue Licht! Da steht der Mann, der alte Mann mit dem Holzgesicht, ganz braun ist das Holzgesicht, ganz braun und glatt. Und die Hexe neben ihm. ›Du bekommst das Zeichen‹, sagt der Mann, und die Hexe nickt. Ein, zwei, drei Hexen. Das Zeichen –«
    Nydecker brach ab, aber nur einen Augenblick schwieg er. »Sie singen, sie singen, die alten Damen singen…«, sagte er leise.
    »Ja, wer singt denn eigentlich so merkwürdige Lieder vor Ihrem Fenster?« fragte O'Key, stand auf und wollte sich über den Fenstersims beugen, da erhielt er einen schmerzhaften Stoß in die Seite und sah eine Gestalt blitzschnell hinausspringen.
    »Halten Sie ihn doch!« schrie Madge.
    »Nierenschlag«, sagte O'Key gepreßt. »Einen Augenblick, ist gleich vorüber«, er atmete tief, reckte die Arme zum Himmel. »Ich bin gleich wieder da.« Damit sprang auch er zum Fenster hinaus. Nydecker hatte nur zehn Schritte Vorsprung. Er mußte sich leicht den Fuß geprellt haben beim Absprung, denn er hinkte eilig einer Hecke zu, hinter der, nach einem kurzen freien Stück, ein Wald begann. Aus der Hecke drang, laut und deutlich, der Gesang, der wie ein Kirchenlied wirkte, und O'Key verstand die Worte. Es waren dieselben, die er auf der Münze entziffert hatte. »Kaulakau, Saulasau!« klang es. Da hatte er Nydecker eingeholt. Er packte den kleinen Mann, der sich strampelnd und fauchend wehrte, packte ihn fest, und der Widerstand ließ nach. Dauerbad schwächt eben die stärkste Konstitution, und Nydecker hatte die letzten Tage viel im Wasser zubringen müssen. O'Key schritt zurück, hob Nydecker zum Fenster empor, und sagte, keuchend ein wenig, denn der Schlag schmerzte noch immer: »Hier haben Sie Ihr Baby.«
    Madge nahm den Kleinen ohne große Anstrengung, setzte ihn in den Lehnstuhl. Nydeckers Kopf hing erschöpft herab. Viel Angst war in den Augen.
    Als O'Key wieder im Zimmer stand, wies er stumm auf Ronny. Der stand in einer Ecke, stemmte sich mit den Vorderpfoten gegen den Boden und sein Fell war gesträubt. Auch in seinen Augen saß die Angst, und so ähnelten sie merkwürdigerweise denen Nydeckers.
    O'Key zog das englische »what's the matter« zu einem Laut zusammen, der wie ein verhaltenes Bellen klang. Dies löste Ronnys Starrheit. Er wälzte sich zuerst winselnd am Boden, sprang dann auf, stützte die Vorderpfoten auf den Fenstersims und begann zu bellen, aber so verrückt zu bellen, daß Madge sich die Ohren zuhielt. Es war, als wolle Ronny seine Tapferkeit beweisen, ungefähr wie ein kleines Kind im dunklen Zimmer singt, um die Finsternis zu vertreiben.
    »Ich glaube, wir brechen besser ab«, sagte Madge und wies auf den erschöpften Nydecker. »Haben Sie die Sängerin nicht gesehen?«
    »Nein, sie hatte sich in der Hecke versteckt. Aber, Sie haben ganz recht, es war eine Frauenstimme, die Stimme einer alten Frau.«
    »Die Hexe singt«, sagte Nydecker laut und nickte dazu mit dem Kopfe, einmal, zweimal, dann rasch hintereinander, immer wieder, wie jene kleinen chinesischen Götzenbilder, deren Kopf beweglich ist.
    »Ich kann nicht mehr…«, sagte Madge seufzend. »Ich kann den kleinen Mann mit der heimatlosen Seele nicht mehr sehen.« Sie ging zum Tischtelephon, stellte eine Nummer ein.
    »Kommen Sie Nydecker wieder holen, Chef. Ja, sofort, bitte.«
    Dann setzte sich Madge auf die Kante des Sofas, stützte den Kopf in die Hände und wartete. O'Key nahm seine Wanderung durchs Zimmer wieder auf. Dann rollte fern der Donner, ein

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