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Der Tee der drei alten Damen

Der Tee der drei alten Damen

Titel: Der Tee der drei alten Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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beschloß, einen Dauerlauf zu probieren, und legte los. Seine langen Beine kamen ihm zustatten.
    Als er am Hotel an der Route de Chêne vorbeitrabte, lag es still da. Aus der Ferne kam ein Surren näher. O'Key hoffte, das Surren kündige ein Taxi an. Aber es war ein Privatauto. Wieder, wie schon einmal in dieser Nacht, drückte sich O'Key in einen Hausgang. Der Morgen war nicht weit. Grau und glänzend war der Himmel, wie das Fell eines Apfelschimmels.
    Aus dem Auto stieg – wahrhaftig, Kommissar Pillevuit entstieg dem Auto! Zwei Männer begleiteten ihn. Den einen kannte O'Key, es war Herr Dériaz, der so lange das Haus des Professors bewacht hatte; die verbeulten Hosenknie, die fettige Krawatte verrieten ihn. Einen Augenblick zögerte O'Key. Sollte er Pillevuit anrufen? O'Key beherrschte sich. Kommissar Pillevuit war ›Im Dienst‹ – ›dans l'exercice de ses fonctions‹ – besser, man ließ ihn in Frieden. Pillevuit läutete nicht, er probierte die Klinke der Haustür, das Tor ging auf. Pillevuit verschwand mit seinen Trabanten. O'Key setzte seinen Dauerlauf fort.
    Still lag die Villa des Mimosas inmitten ihrer hohen Laubbäume. O'Key ging um das Haus, auf der Suche nach seinem Motorrad. So kam er auf die Hinterseite des Hauses. Inmitten des parkähnlichen Gartens war ein Stück Land freigelassen, als Garten angelegt. Stauden wuchsen da, vor jeder Staude steckte eine breite, gelbe Etikette im Boden. O'Key beugte sich nieder, um das Geschriebene darauf zu entziffern. Es waren merkwürdige, unbekannte Zeichen. O'Key schüttelte den Kopf. Wer war auf die ausgefallene Idee gekommen, Pflanzen in Geheimschrift anzuschreiben? Ein paar Stauden waren immerhin an den Blättern zu erkennen. Verschiedene Sorten von Akonit, von Eisenhut – ah, und da war Bilsenkraut. Dann kamen ausländische Pflanzen mit dicken, fettigen Blättern. Am Ende des Gartens, dort, wo schon wieder der Park mit seinen Bäumen begann, stand ein einstöckiges Haus, ein grauer Zementwürfel mit Flachdach. Keine Fenster. Als O'Key näher trat, bemerkte er, daß die einzige Öffnung des Baues eine Türe war, eine eiserne Türe. Zwei Yale-Schlösser sicherten sie.
    »Jaja«, sagte O'Key ziemlich laut, so als hätte er hier eine Bestätigung seiner Vermutungen gefunden. Dann ging er zu der Villa zurück. Dort lehnte sein Motorrad. André hatte gut gearbeitet. Die Pneus waren hell. Sachte stieß O'Key das Rad vor sich her, saß auf, als er die Straße erreicht hatte. Der Motor benahm sich wie eine Schnellfeuerkanone. O'Key fuhr davon.
    Etwa hundert Meter vor der Anstalt Bel-Air hielt O'Key an und führte sein Motorrad in ein Gebüsch. Dann ging er vorsichtig weiter, im Schutze einer Hecke, orientierte sich, ging um die Umfassungsmauer herum, kam auf ein freies Feld. Endlich erblickte er den Pavillon, in dem Madge wohnte. Leise schlich er näher, legte die Unterarme auf den Fenstersims – das Fenster war offen. Und während er noch überlegte, ob er rufen solle oder ohne weiteres eindringen, bewegten sich die Vorhänge, zwei braune Pfoten teilten sie, eine struppige Schnauze erschien, und Ronny wuffte leise.
    »Hello, Ronny«, murmelte O'Key, »wieder zurück? Was macht die Meisterin?«
    Ronny grunzte friedlich und nickte, legte die Schnauze auf O'Keys verschränkte Hände und blickte ruhig in die Augen des Freundes. »Kann man eintreten, Ronny?« fragte O'Key. Ronny verstand sehr gut. Er schenkte dem frischen Morgen noch einen sehnsüchtigen Blick (O'Key verstand den Hund gut, der wäre gerne auf einen Morgenausflug ausgerückt, aber er mußte die Meisterin bewachen, es war genug, daß er sie einmal verloren hatte), dann machte er Platz, und das Schütteln seines Hundehauptes sah aus wie eine Einladung zum Nähertreten. O'Key zog die Schuhe aus, stellte sie sanft auf den Boden des Zimmers, schwang sich auf den Sims und betrat vorsichtig das Zimmer.
    Fräulein Dr. med. Madge Lemoyne sah gar nicht wie eine Ärztin aus. Sie lag da wie ein betrübtes kleines Mädchen, das sich in den Schlaf geweint hat. Ihre Wange lag auf den gefalteten Händen, die Decke hing schief vom niederen Bett herab, langsam rutschte sie auf den Boden. Auf den Zehenspitzen trat O'Key näher, sehr vorsichtig packte er die rutschende Decke und legte sie über die Schlafende. Dann, immer noch mit größter Vorsicht, packte er den Klubsessel, stellte ihn neben das Bett, ließ sich sachte hineingleiten und starrte dann auf die Schlafende.
    Er vergaß alles. Er sah nur das Gesicht, das

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