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Der Tee der drei alten Damen

Der Tee der drei alten Damen

Titel: Der Tee der drei alten Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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keuchte er. »Herr Martinet, binden Sie mir den Arm ab. Sonst…«
    »Na, na«, sagte Herr Martinet gemütlich, »tragen Sie Klapperschlangen oder Kobras in Taschenformat bei sich? Was ist los? Ich will Ihnen ja gern die Freude machen mit einer Bandage… aber wozu, lieber Freund?« Klein und dick stand Herr Martinet vor O'Key, der auf einen Stuhl gesunken war.
    »Hier, sehen Sie, der Giftpfeil, der heute auf den Professor abgeschossen worden ist…« O'Key zog den winzigen Kautschukball aus der Tasche, die Spitze der Hohlnadel war leicht von Blut gerötet. Herr Martinet fiel auf einen Stuhl und begann zu lachen. Es war ein elementares Ereignis, dieses Lachen. Herrn Martinets Fettpolster hüpften, sie hüpften am Kinn, auf der Brust, über dem Bauch, schließlich sprangen zwei Knöpfe seiner Weste ab und schepperten über den Boden.
    »Er will bluffen!« keuchte Herr Martinet, gluckste wie eine Henne, bekam den Schluckauf. »Er will bluffen, der junge Mann will bluffen und fällt auf den erstbesten Schwindel herein. Geben Sie das Ding. Schauen Sie.« Herr Staatsrat Martinet litzte die Ärmel zurück, stach sich die Nadel in den Unterarm, preßte den kleinen Kautschukballon mit Daumen und Zeigefinger. Es gab eine kleine Geschwulst unter der Haut.
    »Schwindel, lieber O'Key, nichts als Schwindel. Pillevuit wäre darauf nie hereingefallen. Der Professor ist nämlich schon einmal zu ihm ins ›Palais‹ gekommen, mit einem ähnlichen ›Pfeil‹. Destilliertes Wasser fand man bei der Untersuchung.«
    »Aber warum…?« stotterte O'Key.
    »Warum? Die alte Geschichte. Sie glauben noch immer an die alte Geschichte mit dem schwarzen Läufer, der nur die schwarzen Diagonalen benützen darf. Ein Wissenschaftler geht der Wahrheit nach, gut. Aber irgendwo muß die Lüge, die in uns allen sitzt, die Phantasie meinetwegen, heraus. Kein Mensch denkt daran, dem Professor ein Leids zu tun. Ja, mein Staatsanwalt will ihn einsperren. Aber das hat noch Zeit. Doch nicht einmal der ›Meister der goldenen Himmel‹ denkt daran, den Professor zu töten. Dominicé aber kann es nicht vertragen, nicht wichtig genommen zu werden. So erfindet er kleine Mordanschläge…«
    »Ja, aber die Fliegen…«, wollte O'Key beschämt wissen.
    »Ja, die Fliegen sind eine Tatsache. Eine schwer erklärbare Tatsache, aber so wirklich wie meine heutige Septim im Pikett. Gute Nacht, O'Key, ich bin schon ganz heiser. Von mir hören Sie heute abend kein Wort mehr.«
    Dann stand O'Key auf der Straße. Seine Wohnung war nicht weit. Er zog sich im Dunkeln aus. Er hatte Angst, in einen Spiegel zu blicken, so sehr fürchtete er sich vor dem dummen Gesicht, das ihm entgegensehen würde.
    O'Key lag im Bett und hatte sich vorgenommen, sogleich einzuschlafen. Er drehte sich gegen die Wand, schloß die Augen, rollte sich zusammen, steckte die zusammengelegten Hände zwischen die Schenkel und atmete tief. In der Ferne schlug eine Turmuhr. Das Fenster stand offen, aber die Luft im Zimmer war dick und behinderte das Atmen. O'Key wälzte sich auf die rechte Seite. Vor seinen geschlossenen Augen entstanden Bilder, vorüberhuschende Bilder: der Missionar mit dem wie aus Holz geschnitzten braunen Gesicht, der im Hause der Witwe Pochon verschwunden war. Er hörte sich zum Colonel sagen: »Ich glaube, es wird langsam klarer!« Das war renommiert, das war unanständig aufgeschnitten. O'Key seufzte und fühlte, wie er im Dunkeln rot wurde. Dann sprang das Bild auf seinen Lidern ins Dunkle, ein neues entstand. Er sah Madges Zimmer, sah den kleinen Nydecker an der Hand des gelben Oberwärters aus der Türe gehen, er sah Madges Verzweiflung nach der Mitteilung am Telephon. Abblenden. Neues Bild. Und dieses Bild war verzweifelt deutlich, obwohl oder besser, weil er es nie gesehen hatte. Er sah Madge in einem dunklen Zimmer, der junge Pochon, der aussah, wie seine Mutter aussehen würde, wenn sie eine Entfettungskur durchgemacht hätte. Jules Pochon hielt ein Bündel Drähte in der Hand, er hielt Madges Arm in der Linken, er stach zu, beschmierte die Stelle mit einem scharfen Öl… Madges Gesicht war leblos und bleich…
    Mit einem Ruck warf O'Key die Decken zurück, stand auf, kleidete sich eiligst an. Da kam durchs Fenster das vielstimmige Schlagen der Turmuhren; sie schlugen die Stunde: O'Key zählte. Es war drei Uhr morgens.
    Um drei Uhr morgens war kein Taxi aufzutreiben. Bis zur Villa des Mimosas war es weit. O'Key rechnete. Zu Fuß brauchte er etwa dreiviertel Stunden. Er

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