Der Tempel der Ewigkeit
die Absichten des Libyers gewesen. Er wollte die Demütigungen rächen, die sein Volk erlitten hatte, wollte Ägypten schwächen und die schwindende Gesundheit Echnatons ausnutzen, um ihn zum Verzicht auf jedwede Verteidigungspolitik zu bewegen.
Beinahe wäre ihm das auch gelungen.
Und nun nahm Ofir die Fackel wieder auf. Hatte er nicht die Weisheit seines Ahnen und dessen Fähigkeiten als Zauberer geerbt? Er verabscheute Ägypten ebenso und würde aus seinem Haß die Kraft schöpfen, das Land zu zerstören. Um Ägypten zu besiegen, mußte er den Pharao stürzen. Er mußte Ramses stürzen.
Litas Blick blieb ausdruckslos. Dennoch erklärte ihr Ofir nach und nach die königlichen Bauten und die Tempel, die Herrenhäuser der Adligen, und er zeigte ihr die Viertel der Handwerker und Kaufleute sowie das Gehege, in dem Echnaton seltene Tiere gehalten hatte. Stundenlang waren Ofir und Lita durch die leeren Paläste gewandert, in denen der König und Nofretete mit ihren Töchtern gespielt hatten, von denen eine die Großmutter der jungen Frau geworden war.
Während dieses erneuten Besuchs in der Sonnenstadt, die von Jahr zu Jahr weiter verfiel, kam es Ofir so vor, als sei Lita aufmerksamer geworden, als sei ihre Anteilnahme an der sie umgebenden Welt endlich erwacht. Eine Weile hielt sie sich in Echnatons und Nofretetes Schlafgemach auf, bis sie sich über eine aus den Fugen geratene Wiege beugte und zu weinen begann.
Als ihre Tränen versiegt waren, nahm Ofir sie an der Hand und führte sie in die Werkstatt eines Bildhauers. In Kisten lagen mehrere aus Gips geformte Frauenköpfe, die dem Künstler als Vorlage für die aus edlem Stein gefertigten Büsten gedient hatten.
Der Magier holte einen nach dem anderen heraus.
Plötzlich strichen Litas Finger behutsam über einen der Köpfe aus Gips, über ein Antlitz von erhabener Schönheit.
«Nofretete», murmelte sie.
Dann griff sie nach einem anderen, kleineren Kopf mit bemerkenswert edlen Gesichtszügen.
«Merit-Aton, die von Aton Geliebte, meine Großmutter. Und hier eine ihrer Schwestern, da ist noch eine Schwester… Meine Familie, meine vergessene Familie! Sie ist mir wieder nahe, so nahe!»
Sie drückte die Köpfe aus Gips an ihre Brust, doch einer entglitt ihr, fiel zu Boden und zerbarst.
Ofir befürchtete schon, sie würde vor Gram darüber in Tränen ausbrechen, doch die junge Fau gab keinen Laut von sich, sondern verharrte eine Weile in Reglosigkeit. Dann schleuderte sie die übrigen Köpfe gegen eine Wand und trampelte auf den Bruchstücken herum.
«Die Vergangenheit ist tot, und ich töte sie vollends», erklärte sie mit starrem Blick.
«Nein», entgegnete der Magier, «die Vergangenheit stirbt nie. Deine Großmutter und deine Mutter wurden grausam verfolgt, weil sie an Aton glaubten. Ich habe dich bei mir aufgenommen, ich habe dich vor der Verbannung bewahrt und dem sicheren Tod entrissen.»
«Das stimmt, ich entsinne mich… Meine Großmutter und meine Mutter liegen da drüben begraben, in den Hügeln, und ich sollte seit langem bei ihnen sein. Aber du hast mich wie ein Vater behandelt.»
«Die Zeit der Rache ist gekommen, Lita. Daß du statt einer glücklichen Kindheit nur Leid und Schmerz erlebt hast, liegt an Sethos und Ramses. Der eine ist tot, der andere unterdrückt ein ganzes Volk. Wir müssen ihn bestrafen, du mußt Vergeltung üben.»
«Ich möchte durch meine Stadt gehen.»
Lita berührte die steinernen Wände der Tempel und die Mauern der Häuser, als nehme sie die ausgestorbene Stadt in Besitz. Bei Sonnenuntergang stieg sie auf das Dach des Palastes von Nofretete hinauf und ließ den Blick über ihr gespenstisches Königreich schweifen.
«Meine Seele ist leer, Ofir, du füllst sie mit deinen Gedanken.»
«Ich möchte erleben, daß du herrschst, Lita, daß du den Glauben an den alleinigen Gott gebietest.»
«Nein, Ofir, das sind nur leere Worte. Dich treibt eine einzige Kraft: der Haß. Denn das Böse ist in dir.»
«Weigerst du dich, mir zu helfen?»
«Meine Seele ist leer. Du säst in ihr deinen Wunsch nach Zerstörung. Du hast mich geduldig geformt, mich zum Werkzeug deiner und meiner Rache gemacht. Jetzt bin ich bereit, zu kämpfen wie ein scharfes Schwert.»
Ofir kniete nieder und dankte Gott. Seine Gebete würden endlich erhört werden.
EINUNDZWANZIG
DIE AUFREIZENDEN GEBÄRDEN der Tänzerinnen - Ägypterinnen aus dem Delta und Nubierinnen mit einer Haut wie Ebenholz - erregten in der Schenke die Gemüter. Auch
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