Der Tempel der Ewigkeit
ihren Höhlen», erklärte er. «Du kannst ohne Furcht hinausgehen.»
«Lebe wohl, Ofir.»
«Bis bald, Moses.»
ZWEIUNDZWANZIG
NOCH EHE DER Morgen dämmerte, trat der Priester Bakhen aus seiner Wohnstätte, wusch sich den sorgsam enthaarten Körper, legte einen weißen Schurz um und begab sich mit einem Krug zum heiligen See, über dem bereits Dutzende von Schwalben die Wiedergeburt des Tages ankündigten. Diesen See, zu dem steinerne Stufen hinabführten, speiste das nie versiegende Wasser des Urozeans Nun, aus dem alle Formen des Lebens hervorgegangen waren. Bakhen schöpfte ein wenig der kostbaren Flüssigkeit, die für die zahlreichen, im Tempel vollzogenen Rituale der morgendlichen Reinigung verwendet wurde.
«Erinnerst du dich noch an mich, Bakhen?»
Der Priester wandte den Kopf nach dem Mann, der ihn angesprochen hatte und wie ein schlichter Reinigungspriester gekleidet war.
«Ramses…»
«Im Heer, als du noch mein Lehrmeister warst, da schlugen wir uns und trugen abwechselnd den Sieg davon.»
Bakhen verneigte sich.
«Meine Vergangenheit liegt weit hinter mir, Majestät. Heute gilt all mein Sinnen und Trachten Karnak.»
Der ehemalige Aufseher über die Pferdeställe des Königs, ein einst vortrefflicher Reiter mit kantigem Gesicht und rauher Stimme, erweckte tatsächlich den Eindruck, als erfülle ihn seine neue Aufgabe ganz und gar.
«Gehört Karnak denn nicht dem König?»
«Wer behauptet das Gegenteil?»
«Es tut mir leid, wenn ich den Frieden in deiner Seele störe, Bakhen, aber ich muß wissen, ob du mein Freund oder mein Feind bist.»
«Weshalb sollte ich dem Pharao feindlich gesinnt sein?»
«Weil mir der Oberpriester des Amun den Kampf angesagt hat, weißt du das etwa nicht?»
«Diese Streitigkeiten um die Rangordnung…»
«Verschanze dich nicht hinter hohlen Worten, Bakhen. In diesem Land ist kein Platz für zwei Herrscher.»
Der Mann, der Ramses zum Offizier ausgebildet hatte, wirkte ratlos.
«Ich habe kaum die niedrigsten Stufen des Priesteramts erklommen und ich…»
«Wenn du mein Freund bist, Bakhen, dann solltest du auch mein Verbündeter sein in dem Kampf, den ich führe.»
«Auf welche Weise?»
«Dieser Tempel muß gleich allen anderen Heiligtümern Ägyptens eine Stätte der Rechtschaffenheit sein. Wie würdest du dich verhalten, wenn das nicht der Fall wäre?»
«So wahr ich Pferde abgerichtet habe, Majestät, ich würde den Schuldigen das Fell gerben.»
«Das ist genau die Hilfe, um die ich dich bitte, Bakhen. Verschaffe mir die Gewißheit, daß hier niemand gegen die Gesetze der Maat verstößt.»
Darauf entfernte sich Ramses. Ebenso gemessenen Schrittes wie die Reinigungspriester, die ihre Gefäße mit dem läuternden Wasser gefüllt hatten, ging er an dem heiligen See entlang.
Bakhen war nicht imstande, sogleich eine Entscheidung zu treffen. Karnak war seine Heimstätte geworden, die Welt, in der er gerne lebte. Aber war der Wille des Pharaos nicht heilig, über alles andere erhaben?
In Theben besaß der syrische Kaufmann Raia im Herzen der Stadt drei hübsche kleine Läden. Hier erwarben die Köche der adligen Familien gepökeltes Fleisch, indes die begehrlichen Blicke ihrer Herrinnen eher den erlesenen, schön geschwungenen Vasen aus den Ostländern galten.
Seit dem Ende der Trauerzeit nach Sethos’ Tod hatten sich die Geschäfte wieder belebt. Der stets höfliche Raia, der einen ausgezeichneten Ruf genoß, konnte auf eine treue Kundschaft zählen, die beständig anwuchs. So säumte er nicht, mehr und mehr Gehilfen einzustellen und sie zu ihrem Fleiß zu beglückwünschen, während sie ihrerseits nicht müde wurden, Lobreden auf den Syrer zu halten.
Nachdem der Bader, der ihm den kleinen Spitzbart gestutzt hatte, weggegangen war, beugte Raia sich über seine Rechnungen und ordnete an, man möge ihn unter keinen Umständen dabei stören.
Alsbald wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er litt unter der sommerlichen Hitze, aber noch mehr darunter, daß er vergebens einen griechischen Blondschopf gedungen hatte, damit er in Ramses’ Amtsräume schleiche und die Schriftstücke in Augenschein nehme, mit denen sich der junge Herrscher vordringlich zu befassen gedachte. Im Grunde war diese Niederlage vorhersehbar gewesen, und Raia hatte vor allem die von Ramses und Serramanna getroffenen Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit auf die Probe stellen wollen. Zu seinem Bedauern waren sie anscheinend wirkungsvoll. Unter diesen Umständen mochte es
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