Der Tempel der Ewigkeit
Bakhen einen Blick darauf.
Da standen nur wenige hieroglyphenähnliche Zeichen, die keinen Sinn ergaben und mit der Lieferung von feinstem Linnen nichts zu tun hatten.
Als der Priester mit einem Schlauch Wasser zurückkehrte, hatte Bakhen sich wieder seiner Beschäftigung zugewandt.
«Da, trink, es ist kühl… Uns bei dieser Hitze arbeiten zu lassen ist unmenschlich.»
«Die Esel beklagen sich nicht.»
«Du bist vielleicht ein Spaßvogel!»
«Du bist doch bald fertig, oder nicht?»
«Glaub nur das nicht! Nachher heißt es noch darüber wachen, daß das Leinen in die richtigen Vorratskammern gelangt.»
«Und was machen wir mit den Holztafeln?»
«Du kannst mir deine geben. Ich trage sie mit meiner in die Schreibstube der Güterverwaltung.»
«Ist die weit von den Lagerhäusern entfernt?»
«Nicht allzu sehr, aber es ist schon ein Stück zu laufen.»
«Dann teilen wir uns doch die Aufgaben. Ich bringe die Tafeln fort.»
«Nein, nein! Die kennen dich dort nicht in der Güterverwaltung.»
«Das wäre eine gute Gelegenheit, mich ihnen vorzustellen.»
«Die hängen aber an ihren Gewohnheiten und ändern sie nicht gern.»
«Ist das tägliche Einerlei den Menschen nicht schädlich?»
«Danke für dein Angebot, aber ich schaffe das schon.»
Sein Amtsbruder wirkte plötzlich sehr verstört und trat beiseite, so daß Bakhen nicht mehr sehen konnte, ob er etwas schrieb.
«Plagt dich ein Krampf, mein Freund?»
«Nein, mir geht es gut.»
«Zerstreue meine Besorgnis: Bist du wirklich des Schreibens kundig?»
Zutiefst beleidigt blickte der Priester Bakhen an.
«Weshalb fragst du das?»
«Weil ich deine Tafel gesehen habe, als sie auf dem Esel lag.»
«Du bist recht neugierig…»
«Nur in Maßen. Aber wenn du willst, schreibe ich dir die richtigen Zeichen. Sonst wird deine Tafel zurückgewiesen und du handelst dir Verdruß ein.»
«Tu nicht so, als wärst du begriffsstutzig, Bakhen.»
«Was soll ich denn begreifen?»
«Also, jetzt reicht es. Na schön, du willst etwas abhaben… Das ist durchaus verständlich, aber ich muß schon sagen, du verlierst keine Zeit.»
«Erkläre dich deutlicher.»
Der Priester mit dem verschmitzten Gesicht trat dicht an Bakhen heran und senkte die Stimme.
«Dieser Tempel ist reich, sehr reich, und unsereiner weiß sich zu helfen. Ein paar schöne Leinenstücke weniger werden Karnak nicht zugrunde richten, und wir machen ein ausgezeichnetes Geschäft, wenn wir sie an gute Kunden verkaufen. Verstanden?»
«Ist die Güterverwaltung an diesem Schwindel beteiligt?»
«Nur ein Schreiber und zwei Verwalter der Vorräte. Da diese Stoffe nicht in ihren Listen stehen, gibt es sie überhaupt nicht, und wir können sie unter der Hand verschachern.»
«Hast du keine Angst, daß man dich erwischt?»
«Zerbrich dir darüber nicht den Kopf.»
«Und wenn die höheren Beamten…»
«Die höheren Beamten haben andere Sorgen. Wer sagt dir denn, daß sie nicht ein Auge zudrücken? Also, wie hoch ist der Anteil, den du begehrst?»
«Nun ja… so hoch wie möglich.»
«Du bist ganz schön gierig. Wir werden uns gut vertragen. In einigen Jahren nennen wir ein hübsches kleines Vermögen unser eigen, und dann haben wir es nicht einmal mehr nötig, hier zu arbeiten. Machen wir jetzt weiter?»
Bakhen nickte zustimmend.
Die aufgehende Sonne erfüllte das Gemach mit dem hellen Glanz des Morgens. Nefertari legte ihren Kopf auf Ramses’ Schulter, und voller Ehrfurcht beobachteten sie dieses Wunder, das sich Tag um Tag aufs neue ereignete: den Sieg des Lichts über die Finsternis. Dann huldigte das königliche Paar mit den morgendlichen Ritualen der Sonnenbarke, die auf ihrer Reise durch die Gefilde der Unterwelt die riesige, die Schöpfung bedrohende Schlange bezwungen hatte.
«Ich bedarf deiner Zauberkraft, Nefertari. Mir steht ein schwerer Tag bevor.»
«Teilt deine Mutter meine Meinung?»
«Mir scheint beinahe, ihr beide habt euch abgesprochen.»
«Wir sehen die Welt mit gleichen Augen», bekannte Nefertari lächelnd.
«Ihr habt mich überzeugt. Ich werde heute den Oberpriester des Amun seines Amtes entheben.»
«Weshalb hast du so lange gezögert?»
«Ich brauchte einen Beweis dafür, daß in seiner Verwaltung nicht alles mit rechten Dingen zugeht.»
«Hast du diesen Beweis etwa erhalten?»
«Bakhen, der mich zum Offizier ausgebildet hat und inzwischen Priester geworden ist, hat einen geheimen Handel mit Leinenstoffen aufgedeckt, in den mehrere Beamte von Karnak verwickelt sind.
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