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Der Tempel der Ewigkeit

Der Tempel der Ewigkeit

Titel: Der Tempel der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Jacq
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vielleicht auch nur eine Sinnestäuschung, doch Ramses hatte damit überhaupt nichts zu tun! Dennoch wurden in den Städten und Dörfern Feste zu Ehren des Pharaos veranstaltet, und sein Name wurde mit Inbrunst gefeiert. Würde er nicht eines Tages den Göttern gleichgestellt sein?
    Der ältere Bruder des Königs sagte seine Verabredungen ab und gewährte, streng nach dem Vorbild der anderen Obersten Vorsteher wichtiger Staatsämter, seinen Untergebenen einen freien Tag. Sich davon auszuschließen wäre ein grober Fehler gewesen.
    Weshalb wurde Ramses nur soviel Glück zuteil? Innerhalb weniger Stunden hatte seine Beliebtheit bei der Bevölkerung bereits die seines Vaters Sethos übertroffen. Etliche seiner Gegner waren erschüttert und fragten sich, ob es überhaupt noch möglich sei, gegen ihn anzukämpfen. Anstatt die eigenen Ziele kräftig voranzutreiben, würde Chenar mit doppelter Vorsicht ans Werk gehen und sein Netz langsam spinnen müssen.
    Doch wenn er hartnäckig blieb, würde er das Glück seines Bruders schon besiegen, denn dieses Glück, von Natur aus untreu, läßt seine Günstlinge letzten Endes doch stets im Stich. Sobald es sich von Ramses abwandte, würde Chenar zur Stelle sein. Indessen galt es, wirksame Waffen zu schmieden, um dann kräftig und treffsicher zuzuschlagen.
    Von der Straße hallten Stimmen herauf. Eine heftige Auseinandersetzung, wie Chenar meinte. Aber sie wurden lauter und zahlreicher, bis sie sich zu einem wahren Tumult steigerten: Ganz Memphis schrie auf! Der Oberste Gesandte brauchte nur wenige Stufen zu erklimmen, um auf das flache Dach des Gebäudes zu gelangen.
    Das Schauspiel, dem er nun wie Tausende Ägypter zusah, ließ ihn erstarren.
    Am Himmel kreiste ein riesiger, einem Reiher ähnlicher, blauer Vogel.
    «Der Phönix», dachte Chenar. «Unfaßbar! Der Phönix ist wiedergekommen…» Ramses’ älterer Bruder konnte sich dieses törichten Gedankens nicht erwehren, während er den blauen Vogel nicht aus den Augen ließ. Die Legende behauptete, er käme aus dem Jenseits, um eine glanzvolle Herrschaft anzukündigen und ein neues Zeitalter einzuleiten.
    Ein Ammenmärchen! Von den Priestern erfundene, lächerliche Geschichten! Alberne Erzählungen, die das leichtgläubige Volk unterhalten sollten! Doch der Phönix schwebte mit ausgebreiteten Schwingen über der Stadt, zog Kreis um Kreis, als erkunde er Memphis, ehe er entschied, wohin er wollte.
    Wäre Chenar Bogenschütze gewesen, hätte er dieses Federtier abgeschossen, um zu beweisen, daß es nur ein ratloser, verirrter Zugvogel war. Sollte er einem Soldaten den Befehl dazu erteilen? Nein, diesem Befehl würde keiner gehorchen, aber ihn, Chenar, würde man dafür geistiger Umnachtung zeihen. Ein ganzes Volk schaute gemeinsam den Phönix! Schließlich verebbte das Gejohle wieder.
    Chenar schöpfte Hoffnung. Natürlich, jeder wußte es: Wäre dieser blaue Vogel wirklich der Phönix, dann kreiste er nicht nur über Memphis, denn der Legende zufolge hatte er ein ganz bestimmtes Ziel. Wenn er da nicht bald hinflog, würde der schöne Wahn der Menschen schnell zerrinnen, sie würden nicht an ein zweites Wunder von Ramses glauben und vielleicht sogar das erste in Frage stellen.
    Das Glück, dieses unbeständige Glück schickte sich bereits an, Ramses zu verlassen!
    Noch vereinzelte Schreie von Kindern, dann herrschte Ruhe.
    Indessen zog der riesige Vogel immer noch seine Kreise. Die Luft war so klar, daß man das sanfte Rauschen seiner Schwingen vernahm und jeder Flügelschlag sich wie das Knistern edler Stoffe anhörte. Aber dem Jubel folgten Bitterkeit und Tränen: Man hatte nicht den Phönix gesehen, der im Laufe von fünfzehn Jahrhunderten bloß einmal erschien, sondern nur einen kümmerlichen Reiher, der seine Artgenossen verloren hatte und sich nicht mehr zurechtfand.
    Erleichtert kehrte Chenar in sein Amtszimmer zurück. Wie recht er hatte, daß er diesen alten, zur Verdummung unbedarfter Gemüter ersonnenen Legenden keinen Glauben schenkte! Weder ein Vogel noch ein Mensch lebte jahrtausendelang, und kein Phönix erschien in regelmäßigen Zeitabständen im Diesseits, um einen Pharao als den von den Göttern Auserwählten zu rechtfertigen. Dennoch ließ sich aus diesem Vorfall eine Lehre ziehen: Wer regieren wollte, mußte sich darauf verstehen, die Massen in seinem Sinn zu lenken. Ihnen Träume und einen schönen Schein zu bieten war ebenso wichtig, wie sie zu ernähren. Sofern sich die Beliebtheit eines Staatsoberhauptes

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