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Der Tempel der Ewigkeit

Der Tempel der Ewigkeit

Titel: Der Tempel der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Jacq
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Pferd.»
     

DREIUNDDREISSIG
     
     
    IN DEN TAGEN, in denen die Überschwemmung ihren Höhepunkt überschritt, glich Ägypten einem riesigen See, aus dem da und dort von Dörfern überwölbte Hügel herausragten. Für alle, die nicht in den Baustätten des Pharaos beschäftigt waren, bedeutete dies eine Zeit der Muße und der Bootsfahrten. Das auf Bergkuppen in Sicherheit gebrachte Vieh fraß sich an dem Futter satt, das die Bauern ihm heranschleppten, und selbst in jenen Landstrichen, in denen man vor einigen Wochen noch mühevoll auf den Feldern gearbeitet hatte, gab man sieh nun dem Fischfang hin.
    Schon an der Südspitze des Deltas, unweit von Memphis, war der Nil bereits etliche Meilen breit, etwas nördlicher jedoch, dort, wo er sich mit dem Meer vereinte, hatte er sein Bett so weit ausgedehnt, daß es einer mehrtägigen Schiffsreise bedurft hätte, um von einer Seite zur anderen zu gelangen.
    Papyrus und Lotos wucherten wie in Urzeiten, als es noch keine Menschen gab. Die überschäumenden Fluten säuberten den Boden, ertränkten das Ungeziefer und lagerten den fruchtbaren Schlamm ab, der reiche Ernten und Wohlstand verhieß.
    Wie schon seit Monaten stieg ein Schreiber jeden Morgen die Stufen des Nilstandsmessers in Memphis hinunter, um an dem in Ellen unterteilten Pegel die Wasserhöhe abzulesen. Für gewöhnlich ging die Flut um diese Jahreszeit bereits zurück, anfangs noch nahezu unmerklich, bis sie dann, etwa zwei Wochen später, deutlicher und immer schneller sank.
    Der Nilstandsmesser war eine Art rechteckiger, aus Quadersteinen gemauerter Brunnen. Mit größter Vorsicht tastete sich der Beamte Stufe um Stufe hinunter, denn er befürchtete abzurutschen. In der linken Hand hielt er sein Schreibzeug, ein mit einer dünnen Gipsschicht überzogenes Holztäfelchen und eine Fischgräte, während er sich mit der rechten an der Innenwand des Brunnenschachts abstützte.
    Da berührte sein Fuß unerwartet früh die Wasseroberfläche.
    Überrascht hielt der Mann inne und las an der Wand den Pegelstand ab. Seine Augen mußten ihm wohl einen Streich spielen. Er sah genauer hin, sah noch einmal hin, dann stieg er eilends wieder hinauf.
    Der Aufseher über die Kanäle der Region Memphis betrachtete den für die Messung des Wasserstandes zuständigen Schreiber mit Verwunderung.
    «Dein Bericht kann nicht stimmen.»
    «Das dachte ich zuerst auch, aber ich habe mich mehrmals vergewissert, es besteht kein Zweifel.»
    «Ist dir klar, welchen Tag wir heute haben?»
    «Ja, ich weiß, daß die Flut bereits sinken müßte.»
    «Du bist sonst ein vernünftiger Beamter, du genießt einen guten Ruf und stehst auf der Liste derer, die befördert werden sollen. Deshalb bin ich bereit, diesen Vorfall zu vergessen, aber tu das nicht noch einmal und stell deinen Fehler richtig.»
    «Es ist kein Fehler.»
    «Willst du mich zwingen, Strafmaßnahmen einzuleiten?»
    «Sieh selbst nach, ich bitte dich.»
    Der Schreiber war sich seiner Sache anscheinend so sicher, daß der Aufseher über die Kanäle in Verwirrung geriet.
    «Du weißt genau, daß das nicht stimmen kann!»
    «Ich verstehe es ja auch nicht, aber es ist wahr… Was ich auf mein Täfelchen geschrieben habe, ist wirklich wahr!»
    Die beiden Männer begaben sich zum Nilstandsmesser.
    Der Aufseher überzeugte sich selbst von dem unglaublichen Ereignis: Anstatt allmählich zu sinken, stieg das Wasser!
    Sechzehn Ellen, die ideale Höhe der Überschwemmung. Sechzehn Ellen oder «die vollkommene Freude», wie das Volk es nannte.
    Mit der Geschwindigkeit eines fliehenden Schakals verbreitete sich die Neuigkeit im ganzen Land, und überall erhob sich Jubel: Ramses hatte ein Wunder vollbracht! Die Staubecken würden bis zum Überlaufen gefüllt werden und die Bewässerung der Felder bis zum Ende der Dürre gesichert sein. Dank der Magie des Königs würden die Beiden Länder eine Zeit des Überflusses erleben.
    Nun hatte Ramses auch in den Herzen der Menschen Sethos’ Nachfolge angetreten. Ägypten, so meinten sie, werde von einem wohltätigen Pharao mit übernatürlichen Kräften regiert. Er war imstande, die Höhe der Überschwemmung zu bestimmen, das Gespenst der Hungersnot zu vertreiben!
    Chenar schnaubte vor Wut. Wie konnte man nur die Dummheit des Pöbels unterbinden, der aus einer Naturerscheinung ein sichtbares Zeichen von Zauberei machte? Gewiß, diese verdammte Rückkehr der Überschwemmung, die noch kein Schreiber des Nilstandsmessers je beobachtet hatte, war ungewöhnlich,

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