Der Tempel der Ewigkeit
nicht von allein einstellte, war es also ratsam, ihr ein wenig nachzuhelfen, indem man schmeichelhafte Gerüchte in die Welt setzte.
Da hob das Geheul von neuem an.
Wahrscheinlich machten die enttäuschten Bewohner von Memphis, die sich um das erhoffte Wunder betrogen fühlten, nun ihrem Ärger Luft. Chenar hörte Ramses’ Namen heraus, was nur bedeuten konnte, daß sein Untergang immer schneller nahte.
Der Bruder des Königs stieg wieder auf das Dach. Höchst befremdet mußte er zusehen, wie eine freudetrunkene Menschenmenge den Phönix bejubelte, der gerade in Richtung Obelisk davonflog.
Zornentbrannt begriff Chenar, daß die Götter auf diese Weise ein neues Zeitalter ankündigten. Das Zeitalter Ramses’.
«Gleich zwei Zeichen des Himmels», stellte Nefertari fest. «Eine unerwartet zurückgekehrte Nilschwelle und das Erscheinen des Phönix! Welche Herrschaft hätte je mit größerem Glanz begonnen?»
Ramses las die Berichte, die ihm zugegangen waren. Dieses unglaubliche Ansteigen des Wassers bis zur idealen Höhe war ein Segen für Ägypten, und der riesige blaue Vogel, den die gesamte Einwohnerschaft von Memphis bewundert hatte, war tatsächlich zum großen Tempel von Heliopolis geflogen und hatte sich dort auf der Spitze des Obelisken, des «zu Stein gewordenen Lichtstrahls», niedergelassen.
Aus dem Jenseits wiedergekehrt, so hieß es in den Berichten, sitze der Phönix reglos da oben und blicke über das von den Göttern geliebte Land.
«Du siehst so erstaunt aus», bemerkte Nefertari.
«Wer wäre das nicht angesichts der Allmacht dieser Zeichen?»
«Bringen sie dich etwa von deinem Vorhaben ab?»
«Im Gegenteil, Nefertari. Sie bestätigen mir, daß ich voranschreiten muß, ohne mir Gedanken über mögliche Einwände, Hürden und Hindernisse zu machen.»
«Dann wirst du also jetzt deinen großen Plan verwirklichen.»
Er schloß sie in die Arme.
«Die Überschwemmung und der Phönix haben die Antwort gegeben.»
Da stürzte ein atemloser Ameni in den Audienzsaal.
«Der Oberschreiber… aus dem Haus des Lebens… Er wünscht, dich zu sprechen.»
«Er möge hereinkommen.»
«Serramanna will ihn durchsuchen… Das gibt einen Skandal!»
Eilends schritt Ramses in die Vorhalle, wo der mit einem schlichten weißen Gewand bekleidete Oberschreiber, ein gedrungener Mann von etwa sechzig Jahren mit kahlgeschorenem Kopf, und der mit Helm, Brustpanzer sowie Schwert bewehrte sardische Koloß einander gegenüberstanden.
Der Oberschreiber verneigte sich vor dem Pharao, dessen Unmut Serramanna spürte.
«Keine Ausnahme», murmelte der Sarde. «Sonst ist deine Sicherheit nicht mehr gewährleistet.»
«Was wünschst du?» fragte Ramses.
«Im Haus des Lebens hegt man die Hoffnung, dich so bald wie möglich zu sehen, Majestät.»
VIERUNDDREISSIG
ALS SETHOS SEINEN Sohn einst nach Heliopolis mitgenommen hatte, wollte er ihn einer Prüfung unterziehen, die seine Zukunft bestimmen sollte. Heute durchschritt Ramses als Pharao das Tor in der Einfassungsmauer des großen, dem Sonnengott Re geweihten Tempelbezirks, der ebenso weitläufig war wie der des Amun in Karnak.
Auf diesem geheiligten, an einem Kanal gelegenen Boden waren mehrere Bauwerke errichtet worden: der Tempel zu Ehren des Urgesteins, das der Obelisk versinnbildlichte, das Heiligtum des Atum, des Schöpfers, die Kapelle des Weidenbaums, auf dessen Stamm die Dynastien geschrieben standen, sowie eine Gedenkstätte des Königs Djoser, der auch die Stufenpyramide von Sakkara hatte erbauen lassen.
Heliopolis war ein bezaubernder Ort. Von Götterstandbildern auf steinernen Sockeln gesäumte Alleen führten durch Haine aus Akazien, Weiden und Tamarisken. Obstgärten und Olivenbäume gediehen prächtig, die Bienenzüchter erzielten reiche Honigerträge, und die Kühe in den Stallungen hatten pralle Euter. In den Werkstätten wurden hervorragende Handwerker ausgebildet. Außerdem standen an die hundert kleinere Ortschaften in den Diensten der heiligen Stadt, die ihrerseits das Wohlergehen dieser Dörfler sicherte.
Hier hatte die Weisheit Ägyptens ihren Anfang genommen, war in Riten und Mythen eingeflossen und vom Mund der Lehrer an die Ohren der Schüler weitergegeben worden. In der Stille und Abgeschiedenheit dieses Tempels wuchsen Gelehrte heran und erlernten Ritualpriester und Magier ihre Kunst.
Das Haus des Lebens von Heliopohs war das älteste im ganzen Land und hatte jenen als Vorbild gedient, die ihm nun in allen großen Heiligtümern
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