Der Tempel der vier Winde - 8
Mauer war immer noch die Kerbe von Richards Schwert zu sehen.
Sie wußte, ihr blieb keine andere Wahl: Sie mußte hineingehen und mit den Seelen sprechen, aber versessen war sie nicht darauf. Mit den Seelen sprach man nur in Zeiten allergrößter Not, und wenn das Ergebnis auch gelegentlich die gewünschten Antworten enthielt, so bereitete es doch niemals Freude.
Als der Vogelmann fertig war und Kahlan mit schwarzem und weißem Schlamm bedeckt hatte, führte er sie schweigend hinein. Die sechs Ältesten hockten im Kreis um die in der Mitte angeordneten Schädel ihrer Ahnen. Der Vogelmann nahm seinen Platz ein und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen auf die Erde. Kahlan ließ sich ihm gegenüber nieder, rechts von ihrem Freund Savidlin. Sie sprach ihn nicht an. Auch er befand sich in Trance und sah die Seelen in der Kreismitte.
Hinter ihr stand ein geflochtener Korb. Wissend, weshalb er dort stand, zog sie ihn zu sich und griff hinein. Zögernd schloß sie ihre Hand um einen zappelnden roten Seelenfrosch und preßte dessen Rücken zwischen ihre Brüste – die einzige Stelle, wo sie nicht bemalt war.
Der Schleim des Frosches kribbelte auf ihrer Haut. Sie ließ den Seelenfrosch los und faßte die Ältesten zu beiden Seiten an den Händen. Nicht lange dauerte es, bis sie spürte, wie sie scheinbar taumelnd in einen Dämmerzustand hinüberglitt.
Der Raum begann schwindelerregend zu kreisen. Sie wurde aus der Welt, die sie kannte, fortgetragen und in einen sich drehenden Strudel aus Licht und Schatten, Gerüchen und Klängen gesogen. Die Schädel drehten sich mit ihr.
Die Zeit verzerrte sich, ganz so wie in der Sliph, wenn auch nicht auf eine solch beruhigende Weise. Das Erlebnis hatte etwas Verstörendes, das ihr den Schweiß auf die Stirn trieb.
Und es bewirkte, daß die Seele in Erscheinung trat.
Ihre leuchtende Gestalt stand plötzlich vor ihr, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie erschienen war. Sie war einfach da.
»Großvater« , sagte sie leise in der Sprache der Schlammenschen.
Chandalen hatte davon gesprochen, es sei sein Großvater, der bei der Versammlung erschienen war, für sie dagegen bedeutete er noch weitaus mehr: Er war ihr Beschützer geworden. Sie spürte die Verbindung mit dem Knochen, der im Leben ihm gehört hatte.
»Kind.« Der unwirkliche Klang seiner Stimme, die durch den Vogelmann übermittelt wurde, kribbelte auf ihrer Haut. »Danke, daß du meinem Ruf gefolgt bist.«
»Was wünscht die Seele unseres Ahnen von mir?«
Der Mund des Vogelmannes bewegte sich zu der Stimme der Seele. »Das, von dem uns ein Teil anvertraut wurde, ist geschändet worden.«
»Euch anvertraut? Was hat man euch anvertraut?«
»Den Tempel der Winde.«
Kahlans nackter Körper überzog sich mit einer kribbelnden Gänsehaut.
Den Seelen anvertraut? Die Bedeutung dessen erzeugte in ihrem Kopf ein Schwindelgefühl. Die Welt der Seelen, das war die Unterwelt, die Welt der Toten. Wie konnte ein Tempel, der größtenteils aus leblosem Material wie Steinen bestand, in die Unterwelt geschickt werden?
»Der Tempel der Winde befindet sich in der Unterwelt?«
»Der Tempel der Winde existiert teils in der Welt der Toten und teils in der Welt des Lebendigen. Er existiert an beiden Orten gleichzeitig. «
»An beiden Orten, in beiden Welten gleichzeitig? Wie ist das möglich?«
Die leuchtende Gestalt, die einem vom Licht geworfenen Schatten glich, hob eine Hand. »Ist ein Baum ein Geschöpf der Erde wie die Würmer, oder ist er ein Geschöpf der Lüfte wie die Vögel?«
Kahlan wäre eine einfache Antwort lieber gewesen, doch sie war nicht so unklug, den Toten zu widersprechen.
»Verehrter Großvater, vermutlich gehört der Baum zu keiner Welt, existiert aber in beiden.«
Die Seele schien zu lächeln. »So ist es, Kind«, sagte sie durch den Vogelmann. »Genau wie der Tempel der Winde.«
Kahlan beugte sich vor. »Willst du damit sagen, der Tempel der Winde ist wie der Baum, mit Wurzeln in dieser Welt und den Ästen in der deinen?«
»Er existiert in beiden Welten.«
»Wo befindet er sich in dieser Welt, in der Welt des Lebendigen?«
»Dort, wo er immer war, auf dem Berg der Vier Winde. Du kennst ihn als Berg Kymermosst.«
»Berg Kymermosst«, wiederholte Kahlan tonlos. »Verehrter Großvater, ich war an diesem Ort. Der Tempel der Winde steht nicht mehr dort. Er ist verschwunden.«
»Du mußt ihn finden.«
»Ihn finden? Alles deutet darauf hin, daß er früher einmal dort gestanden hat,
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