Der Tempel der vier Winde - 8
gemacht. Ihr habt ja keine Ahnung, welch ein Stein mir vom Herzen fällt.«
Der freudige Ausdruck auf Warrens Gesicht löste sich auf. »Jetzt, nachdem Ihr das für mich getan habt, Nathan, erkenne ich immer deutlicher, daß … wir Jagang Einblick in eine Prophezeiung gewährt haben, die –«
Nathan stieß einen Schrei aus. Clarissa stieß einen Schrei aus. Verna erstarrte. Sie spürte, wie ihr ein scharfer Gegenstand in den Rücken gebohrt wurde.
Amelia hatte Nathan einen Dacra in den Oberschenkel gestochen. Warren erstarrte, als Janet erst ihm, dann den beiden Soldaten mit erhobenem Finger drohte.
»Keinen Mucks, Nathan«, sagte Amelia, »oder ich lasse mein Han fließen, und Ihr seid auf der Stelle tot.«
»Warren hat recht«, meinte Janet. »Er hat Seiner Exzellenz in der Tat sehr nützliches Wissen geliefert.«
»Amelia! Janet!« schrie Verna. »Was tut ihr da?«
Amelia lächelte Verna boshaft an. »Was immer Seine Exzellenz befiehlt, natürlich.«
»Aber ihr habt den Eid geschworen.«
»Nur dem Wortlaut nach, nicht in unserem Herzen.«
»Ihr könnt Euch doch von ihm befreien! Ihr seid nicht gezwungen, Jagang zu dienen!«
»Vielleicht, hättest du uns beim ersten Mal die Wahrheit gesagt. Aber nach dem ersten mißlungenen Versuch, die Bande über Richards Tod hinaus aufrechtzuerhalten, hat Seine Exzellenz uns bestraft. Das Risiko gehen wir nicht noch einmal ein.«
»Tut das nicht«, flehte Verna. »Wir sind doch Freundinnen. Ich bin gekommen, um euch zu retten. Bitte, tut es nicht. Schwört den Eid, und ihr seid frei!«
»Oh, Schätzchen, ich fürchte, das kann sie nicht.« Das war nicht allein Amelias Stimme, da klang noch eine andere mit. Die Stimme, die Verna in ihrem Kopf vernommen hatte: die von Jagang. Plötzlich fing sie an zu zittern, nur weil sie seinen Tonfall und seine Art zu sprechen aus Amelias Stimme heraushörte.
»Und nun, mein treuer und ergebener Generalbevollmächtigter, gebt mir das Buch. Schwester Amelia und ich haben noch Verwendung dafür.«
Nathan hielt es ihr hin, ohne hinzusehen. Mit ihrer freien Hand, die nicht den Dacra in seinem Bein umklammert hielt, riß Amelia das Buch wieder an sich.
»Was ist«, erkundigte sich Nathan, »werdet Ihr uns nun töten oder nicht?«
»Oh, ja, ich habe die Absicht, Euch zu töten«, erklärte Amelia mit Jagangs Stimme. »Außerdem habe ich nicht gerne Untergebene, die mich nicht in ihren Verstand hineinlassen.
Ich dachte, bevor ihr sterbt, lasse ich euch zusehen, wie wirkliche Sklaven Befehlen gehorchen. Ich dachte, vielleicht möchtet ihr mir dabei zusehen, wie ich der kleinen süßen Clarissa die Kehle aufschlitze.«
Atme.
Kahlan stieß die Sliph aus ihren Lungen und sog in panikartiger Gier die fremdartige Luft in sich auf. Nacht brach von allen Seiten über sie herein. Sie nahm sich erst gar nicht die Zeit, sich vor ihrem plötzlichen Sehvermögen zu ängstigen, dem plötzlich wiedererwachten Gehör Zeit zu lassen, sich wieder in ihrem Verstand einzurichten, sondern packte statt dessen die Steinmauer und stemmte sich hoch.
Ein Bild des Schreckens bot sich ihren Augen – passend zu den Worten, die sie bereits gehört hatte. Dank ihres durch die Sliph geschärften Sehvermögens erfaßte sie die gesamte Szene mit einem Blick.
Kahlan erkannte Nathan im Augenblick, als sie ihn sah. Er sah aus wie ein Rahl, außerdem hatte Richard ihr von ihm erzählt – er sei groß, älter, mit langem weißem Haar bis auf die Schultern. Eine Frau hatte ihm einen Dacra ins Bein gestochen und hielt ihn dort fest. Ihren Namen hatte Kahlan bereits gehört: Amelia – dieselbe, die die Pest über das Land gebracht hatte. Kahlan erblickte Verna und dahinter eine weitere Frau. Ein junger Mann stand wie erstarrt da. Kahlan sah eine wunderhübsche junge Frau, die eine andere Frau festhielt, indem sie ihr eine Hand in die zu Löckchen aufgedrehten Haare krallte – das konnte nur Clarissa sein. Mit der anderen Hand hatte die Frau Clarissa ein Messer an die Kehle gesetzt.
Beim Auftauchen aus der Sliph hatte Kahlan den letzten Teil der eben stattgefundenen Unterhaltung mitbekommen und wußte sehr wohl, wessen Stimme es war, die da aus dem Mund der Frau sprach, die Nathan den Dacra ins Bein bohrte. Diese Stimme, so erinnerte sie sich, hatte sie aus dem Mund des Zauberers Marlin gehört, der erschienen war, um Richard hinterrücks zu ermorden. Sie gehörte Jagang.
Das Bild des Amuletts, das Richard trug, erschien ungefragt vor ihrem inneren Auge. Es
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