Der Tempel der vier Winde - 8
der Lage. In Richards Abwesenheit war sie für all diese Menschen die Magie gegen die Magie.
Ihr verletzter Arm zitterte vor Anstrengung, und sie konnte sich kaum an den Sprossen festhalten.
»Beeilt Euch!« rief Nadine unmittelbar hinter ihr. »Er entkommt uns noch!«
Caras Schreie von unten zerrten an Kahlans Nerven.
Kahlan hatte die furchtbare Qual eines Strafers für den Bruchteil einer Sekunde gespürt. Genau diesen Schmerz erlitten Mord-Sith, wann immer sie ihren Strafer in die Hand nahmen, niemals zuckten sie dabei jedoch auch nur mit der Wimper. Mord-Sith lebten in einer Welt der Schmerzen, jahrelanges Foltern hatte ihre Fähigkeit geschult, sie zu ignorieren. Kahlan konnte sich nicht vorstellen, was eine Mord-Sith dazu bringen konnte, so zu schreien.
Was immer Cara zusetzte, es war kurz davor, sie umzubringen, daran bestand für Kahlan nicht der geringste Zweifel.
Ihr Fuß glitt von einer Sprosse ab. Ihr Schienbein schlug schmerzhaft gegen die darüber liegende Sprosse. Sie riß ihr Bein zurück. Sie hatte es eilig, zu Jagang zu kommen. Dabei schürfte sie sich die Haut ab und blieb an einem langen Splitter hängen, den sie sich schließlich in die Wade bohrte. Sie fluchte vor Schmerz und stürmte die Leiter hoch.
Als sie oben durch die Öffnung krabbelte, rutschte sie aus und stürzte in einem Chaos von Gedärm auf Hände und Knie. Unterkommandant Collins starrte sie aus toten Augen an. Die zersplitterten Enden weißer Rippenknochen ragten in die Höhe und drückten das aufgerissene Leder und den Kettenpanzer seiner Uniform auseinander. Sein gesamter Oberkörper war von der Kehle bis zur Leistengegend aufgeschlitzt. Ungefähr ein Dutzend Männer wälzte sich in Todesqualen auf dem Boden. Andere lagen starr da. Schwerter steckten bis zum Heft in den Mauern. Auch Äxte steckten dort fest, als handele es sich bei dem Stein um weiches Holz.
Ein der Magie fähiger Gegner hatte wie mit einer Sichel unter diesen Männern gewütet, aber nicht ohne eigene Verluste. Ganz in der Nähe lag ein Arm, knapp oberhalb des Ellenbogens abgetrennt. Nach der Kleidung daran zu urteilen gehörte er Marlin. Die Finger seiner Hand öffneten und schlossen sich langsam und gleichmäßig. Kahlan stemmte sich hoch und drehte sich zur Tür. Sie packte Nadine an den Handgelenken und half ihr herauf in den Gang.
»Vorsicht.«
Nadine stockte der Atem, als sie das viele Blut sah. Kahlan erwartete, daß sie in Ohnmacht fallen oder hysterisch schreien würde, aber das tat sie nicht.
Von links kamen mit Schwertern, Äxten, Spießen und Bogen schwerbewaffnete Soldaten herbeigeeilt. Nach rechts hin war der Gang leer und lag hinter einer einsamen Fackel still und dunkel da. Kahlan wandte sich nach rechts. Man mußte Nadine zugute halten, daß sie ihr ohne Zögern folgte.
Die Schreie, die aus der Grube nach oben drangen, jagten Kahlan einen Schauder über den Rücken.
10. Kapitel
Hinter der letzten, zischenden Fackel verlor sich der Gang in Dunkelheit. Ein Soldat lag zusammengesunken an der Seite wie ein Haufen schmutziger Wäsche, die darauf wartet, abgeholt zu werden. Sein schwarzverkohltes Schwert lag mitten im Gang, die Klinge zu einem verdrehten Gewirr aus ineinander verschlungenen Stahlstreifen zersplittert.
Kahlan blieb stehen und blickte angestrengt in die reglose Stille, die vor ihr lag. Nichts war dort zu erkennen, nichts war von dort zu hören. Marlin konnte sich überall aufhalten, konnte sich in einem Nebengang verstecken, konnte mit Jagangs selbstzufriedenem Grinsen im Gesicht in einem Winkel lauern, den Verfolgern den Garaus zu machen.
»Ihr bleibt hier, Nadine!«
»Nein. Ich sagte bereits, wir beschützen unsere Leute. Er will Richard töten. Das lasse ich ihm nicht durchgehen, nicht solange ich noch die Chance habe zu helfen.«
»Die einzige Chance, die Ihr habt, besteht darin, daß Ihr getötet werdet.«
»Ich komme mit.«
Kahlan hatte weder Zeit noch Lust auf Diskussionen. Wenn Nadine unbedingt mitkommen wollte, dann sollte sie sich wenigstens nützlich machen. Kahlan mußte die Hände frei haben.
»Dann nehmt die Fackel dort.«
Nadine riß sie aus der Halterung und wartete.
»Ich muß ihn berühren«, erklärte ihr Kahlan. »Wenn ich ihn berühre, kann ich ihn töten.«
»Wen, Marlin oder Jagang?«
Kahlans Herz pochte laut in ihrer Brust. »Marlin. Wenn Jagang in seinen Verstand eindringen konnte, dann kann er vermutlich auch wieder heraus. Aber wer weiß? Zumindest
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