Der Tempel zu Jerusalem
schien in Ordnung zu sein. Die
Begeisterung des großen Ereignisses bewegte alle Herzen.
Gemäß der
Tradition der Gießer begann man mit der Arbeit, als die ersten Sterne am Himmel
standen. In der Nacht war auch die kleinste Abweichung zu erkennen, und das
Auge vermochte dem dahinschlängelnden, glühenden Abstich zu folgen.
Diesen
Augenblick hatten Jerobeam und zwei Fronarbeiter gewählt, um einzugreifen. Die
Überwachung der Baustelle war nicht mehr so streng, und die Dunkelheit war
ihren Absichten günstig. Sie durchstießen die Gußform an mehreren Stellen.
Hiram hob die
rechte Hand. Von der Höhe der Ziegelsteintürme rann das Metall in die Kanäle,
die zum Hochofen führten. Der rötliche Fluß erhellte die Finsternis, beleuchtete
die Fluten des Jordan und die angrenzende Gegend. Die überwältigten Arbeiter
hatten den Eindruck, als stiege eine strahlende Sonne aus den Tiefen der Erde,
ein Licht von jenseits des Grabes, das sich von den Flammen der Hölle nährte.
Der glühende Strom schien einer verbotenen Welt zu entspringen, die von
unbekannten Gesetzen regiert wurde.
Der feurige
Fluß schwoll an und drohte, über die Ufer zu treten. Doch die Gießer schafften
es, ihn so zu regulieren, daß er in den Kanälen blieb. Als alle Rinnen mit dem
Metallabstich gefüllt waren, bildete ihr Netz eine Landschaft aus Feuer, die
von hundert Flüßchen bewässert wurde, die alle einer zentralen Feuerstelle mit
unersättlichem Appetit zuströmten. Hingerissen betrachteten die Handwerker den
langsamen und feierlichen Strom, der die Höhlungen des ehernen Meeres füllte.
Auf hitzegeröteten Gesichtern zeichnete sich ein Lächeln ab. Das Meisterwerk
nahm Form an.
Auf einmal sprang die
glühendheiße Flüssigkeit aus einer Rinne und drohte, das Holzgerüst in Brand zu
setzen.
«Die
Feuertöpfe!» brüllte der Oberbaumeister.
Auf den
Türmen griffen mehrere Gießer zu langen Stangen, an denen Töpfe befestigt
waren, die sie in den Metallstrom tauchten und mit denen sie Masse und Fluß
verringerten. Das ging so schnell, daß die Riesenschale keinen Schaden nahm.
Die überschüssige Bronze verlief sich auf der Erde, wo sie knisternd verlosch.
Hiram
überzeugte sich, daß sich kein Arbeiter verletzt hatte. Er atmete tief durch.
Der Abstich lief dorthin, wohin er sollte, und begann, das riesige Rund des
ehernen Meeres zu bilden und die massiven Leiber von zwölf Stieren anzunehmen,
die es stützen sollten.
Ein
Entsetzensschrei traf ihn ins Mark.
«Die Form!
Die Form birst!»
Der Gießer,
der den Riß bemerkt hatte, wurde von einer wütenden Lava besprüht, die sich aus
ihrem Gefängnis befreite. Sie verbrannte ihm Gesicht und Brust, und er starb
auf der Stelle.
Überall auf
seinem Weg versuchte der Feuerfluß, sein Bett zu verlassen. Noch ein
Augenblick, und das eherne Meer war geboren.
Ein Geselle stürzte auf Hiram
zu.
«Meister, wir
müssen den Fluß aufhalten! Wenn er über die Ufer tritt, zerstört er alles, und
Dutzende müssen sterben!»
«Wenn wir zu
früh eingreifen, wird alles noch viel schlimmer.»
Die Form riß
weiter. Doch der Abstich verfestigte sich bereits. Der Geselle glaubte, der
Oberbaumeister hätte den Verstand verloren und sorgte sich mehr um sein
Meisterwerk als um die Brüder, und so kletterte er auf einen der Rundtürme aus
Holz, der Tausende von Eimern Wasser enthielt. Wahnsinnig vor Angst ließ er die
Sintflut los.
Während der
Abstich noch in der Form stöhnte, verwandelte sich seine glühendheiße
Oberfläche, als sie mit dem Wasser in Berührung kam, in einen kochenden
Springbrunnen. Ein heißer Regen ergoß sich auf die Arbeiter, die laut schreiend
flohen.
Salomo bewunderte Meister
Hirams Schöpfung. Das noch rauchende, eherne Meer hatte eine Nacht der Leiden
und des Unglücks hinter sich, in der es geschaffen worden war. Als man Salomo
die Katastrophe meldete, war er aus Jerusalem zu den Gießereien am Jordanufer
geeilt.
Mehr als
fünfzig Arbeiter waren tot, an die hundert hatten schlimme Verbrennungen
davongetragen. Doch das eherne Meer hatte die Probe siegreich bestanden. Von
einem Genie entworfen, würde die Reinigungsschale mit den zwölf Stieren von nun
an eines der größten Weltwunder sein, das menschliche Hand je erschaffen hatte.
Aus
Verwüstung war Schönheit geboren.
«Wo steckt
Meister Hiram?» fragte der König den Bewacher der Gießereien.
«Das weiß
niemand. Er hat Hilfe organisiert, dann ist er verschwunden.»
«Man bringe
das Werk auf den Vorhof des Tempels.
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