Der Tempel zu Jerusalem
Gegebenheiten abzufinden. Der König mußte
fern von diesem Ort nachdenken.
Salomo hatte
eine weiße Tunika angezogen und lenkte seinen Streitwagen selbst. Er fuhr in
Richtung Etam, zu einem abgelegenen Ort, wo er sich eine Sommerresidenz hatte
bauen lassen. Sie war von einem Garten umgeben, in dessen Mitte eine Heilquelle
sprudelte.
Zu dieser
Jahreszeit lag das Landgut verlassen. Die Sonne ging auf, als Salomo durchs Tor
fuhr. Er ließ den Streitwagen stehen und ging zu Fuß bis an den äußersten Rand
eines Felsvorsprungs, der über der Quelle emporragte. Früher hatten die Bauern
hier Jahwe Opfer gebracht. Der König besann sich auf uralte Gesten und pflückte
einen Strauß Wildkräuter, den er zum Himmel hob. Auf diese Weise konnte der
HERR den flüchtigen Duft der Natur empfangen, die er geschaffen hatte.
Das
Plätschern des Wassers wurde fast zum Tosen. Silbrige Tropfen tanzten im
Sonnenschein. Als Salomo einem mit dem Blick folgte, hörte er Gottes Stimme.
«Ich befehle dir», so sagte sie, «auf meinem heiligen Berg einen Tempel zu
erbauen. Dein Werk wird durch Weisheit erschaffen werden. Sie wird dir zur
Seite stehen, sie, die bei mir war, als ich die Welt erschuf. Sie, und nur sie,
zeichnet den rechten Weg derer, die auf Erden wandeln.»
Salomo besann
sich auf eine Legende, die ihm sein Lehrer so oft erzählt hatte. Zu Anbeginn
der Zeit hatte sich der Himmel geöffnet. Ein Stein fiel herunter und ins Meer.
Auf dieser festen Grundlage bildete sich die Erde. Gott hatte ein Seil auf die
Leere herabgelassen und das Chaos mit der Richtwaage geordnet. Der Baumeister
von Welten hatte Licht und Finsternis voneinander geschieden.
Einen Tempel
erbauen… Salomos Berufung nahm Form an. Die Berufung, die er selbst seit so
vielen Jahren tief in seinem Innersten spürte, galt dem künftigen Bauwerk, das
Jahwe geweiht sein sollte. Wenn er ein großer König werden wollte, mußte er
bauen. Salomo dachte an die berühmte Stufenpyramide des Pharao Djoser: Ehe er
eine Riesenbaustelle errichten konnte, mußte er sein Land endgültig geeint
haben. Ein prachtvolles Heiligtum zum Ruhme des Einen Gottes. Eine heilige
Wohnstatt, die seine Herrschaft überstrahlte.
Berauscht vor
Freude lief Salomo zu seinem Streitwagen und machte sich auf den Weg nach
Jerusalem.
Die Soldaten der königlichen
Leibwache waren in Alarmzustand versetzt worden. Niemand wußte, wohin Salomo
gefahren war. Der Oberhofmeister hatte recht ungeschickt versucht, sein
Verschwinden zu kaschieren, was jedoch einen wahren Skandal auslöste.
Der Platz
wimmelte von Geistlichen und Würdenträgern, die Erklärungen forderten. Einige
zögerten denn auch nicht, den König als Schwachkopf, als Irrlicht oder
Wandervogel zu bezeichnen.
Als Salomo wiederauftauchte,
ging von seiner weißen Kleidung ein blendendes Licht aus, und da verstummte das
Gemurr. Erstaunt blickten seine Untertanen ihn an und konnten sich nicht vom
Fleck rühren. Jeder wartete auf eine Erklärung dieses Rätsels.
Elihap mit
einem versiegelten Papyrus in der rechten Hand bahnte sich einen Weg durch die
Menge der Höflinge, näherte sich seinem König, verbeugte sich vor ihm und
überreichte ihm den kostbaren Gegenstand.
«Das hier
soll ich dir im Auftrag des Propheten Nathan, deines Lehrers, geben.»
«Warum in
diesem Augenblick?»
«So hat es Gott Nathan
eingegeben. Davids Testament sollte dir erst ausgehändigt werden, wenn du in
aller Morgenfrühe den Palast verlassen und allein im Streitwagen und mit
blendendweißem Gewand zurückkommen würdest. Das waren die Worte des Propheten.»
Elihaps
Erklärung säte Furcht in den Herzen der Anwesenden. Man konnte Salomo nicht
mehr als Menschen ansehen. War er nicht einer der Engel, die menschliche
Gestalt annahmen, um den Willen des Höchsten auf Erden auszuführen?
Als Salomo
Davids Residenz betrat, konnte er noch nicht wissen, daß sein Ruf so groß
geworden war, daß niemand mehr seine Autorität in Frage stellte. Er hatte nur
einen Wunsch, nämlich den Text zu lesen, den man so lange vor ihm verborgen
gehalten hatte.
Der König entrollte den
Papyrus auf den Fliesen des Thronsaals. Ja, es war die Schrift seines Vaters.
«Ich bewohne
einen bescheidenen Palast», so schrieb David, «und Jahwes Bundeslade steht in
einem schlichten Zelt. Ich wollte dem Einen Gott eine hehre Wohnstatt
errichten. Doch der Prophet Nathan hat sich stets mit äußerster Strenge dagegen
geäußert. Wenn ich versucht hätte, meinen Plan durchzuführen,
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