Der Tempel zu Jerusalem
jedoch tiefe Senke
und eine furchteinflößende Falte im Fleisch Israels, ein Graben am Fuße des
Berges Hermon in Edom, wo sich Beduinen herumtrieben, die Feinde Israels und
Ägyptens. Im Sommer war die Hitze hier genauso unerträglich wie die Kälte im
Winter. Den alten Texten zufolge hatten hier Sodom und Gomorrha gestanden, die
von Gott verdammt worden waren. Wenn die neue Sintflut käme, so weissagten die
Propheten, würden die wütenden Fluten in den Kessel von Ghor eindringen und
alle Verbrechen der Menschheit auslöschen.
Hiram hatte sich zu Füßen
einer Dattelpalme gesetzt und den Rücken im Angesicht der seit langem
ausgetrockneten Kobrahöhlen an den rauhen Stamm gelehnt. Die Palmen, die bis zu
vierzig Ellen hoch waren, boten wenig Schatten, wenn die Sonne zu sehr
herabbrannte. Der Oberbaumeister mochte diese wilde und wüste Landschaft, in
der nichts die Gedanken störte. Hier richteten selbst die giftigsten Insekten
weniger Schaden an als der Mensch. Wenn man sie nicht störte, taten sie einem
auch nichts.
Hiram war
gelegentliche Einsamkeit gewöhnt. Sie wurde jedem Oberbaumeister vom Haus des
Lebens auferlegt, ehe er anfing, den Plan zu einem neuen Gebäude zu zeichnen.
Er mußte die im Alltagsleben zerflatterten Energien erneut sammeln, seine Mitte
suchen und den Odem der ersten Arbeit wiederfinden.
Doch diese Anstrengungen
waren nichts gegen die Verbannung. Hiram hatte einige Wochen in der Fremde, in
Syrien, in Tyros und in Nubien, verbracht, wo er Bauvorhaben vollendete und
Tempel studierte. Er wäre jedoch nie auf die Idee gekommen, Ägypten zu
verlassen. Er hatte sich ausgemalt, den Rest seiner Laufbahn in Karnak zu
verbringen, wo die Heiligtümer unablässig verschönert wurden und sich zu einem
riesigen Gebilde fügten, das ständig wuchs.
Warum hatte
Siamun ihn gewählt? Warum hatte er ihn in dieses feindselige Land geschickt, in
dem er einem König helfen und zugleich gegen ihn arbeiten mußte? Das Schicksal
hatte durch den Pharao gesprochen und stellte ihn auf die unbarmherzigste Weise
auf die Probe. Fern von Ägypten, von Tanis, von Karnak, von den Menschen, die
er liebte, war Hiram dazu verurteilt, als Spion Erfolg zu haben. Ihm blieb nur
eine einzige Hoffnung, nämlich daß Salomo nicht zum Stelldichein kommen würde.
Der dritte
Tag neigte sich. Allmählich verblaßte das durchsichtige Licht, das den Frühling
ankündigte. Der König von Israel war der Aufforderung des Oberbaumeisters nicht
nachgekommen. Es gab keine andere Erklärung. Der Hinkefuß war zu furchtsam
gewesen, um ihm die Botschaft zuzustellen.
Als Hiram aufstand
und einen steilen Hang von ungefähr zweitausend Ellen hochklettern wollte, der
ihn vom Ghor fortführen würde, fiel ein Schatten neben seinen.
«Willkommen
in meinem Land, Meister Hiram», sagte Salomo auf phönizisch. «Dieser Ort ist
für eine Begegnung nicht recht geschaffen.»
«Gebieter,
ich liebe die Stille.»
«Hierher
kommen Zauberer, die sich mit todbringenden und heilenden Pflanzen auskennen.
Gehörst du zu ihnen?»
«Mein Reich
sind Steine und Holz», entgegnete Hiram. «Ich kann wohl Mineralien mischen,
aber keine Gifte.»
Der
Oberbaumeister drehte sich um.
Seine
Überraschung war so groß, daß er nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken
konnte.
Ganz kurz
glaubte er, in Salomo einen Doppelgänger Siamuns zu erblicken. Salomo trug ein
purpurfarbenes Gewand, sein Kopf war unbedeckt, und dadurch ähnelte er dem
jungen Pharao, der zu den brillantesten Schülern im Haus des Lebens gehört
hatte. Doch das Licht täuschte. Hiram war Opfer eines Trugbilds gewesen, denn
die gab es im Ghor.
«Von wo
kommst du, Meister Hiram?»
«Aus Tyros.
Sein König hat mir erzählt, daß du einen Baumeister suchst.»
Salomo war
von diesem Mann mit dem feurigen Blick, der hohen Stirn und den breiten
Schultern beeindruckt. Er hatte schwarzes Haar, dichte Wimpern und eine gerade
Nase, die seinen Zügen etwas Ernstes verlieh. Kräftig und selbstsicher dieser
Meister Hiram, der gehörte nicht zur Rasse der Sklaven und Diener. So wie
Salomo verführerisch und bezaubernd war, war Hiram zurückhaltend, fast
hochfahrend. Niemand am Hof in Jerusalem besaß einen so festen Charakter wie
der aus Tyros gekommene Baumeister.
Salomo
verspürte Bewunderung, in die sich Furcht mischte, so als hätte der Mann ihn
zugleich begrüßt und verabschiedet.
Und Salomo
machte Hiram neugierig. Israels König gab sich wie ein Pharao. Er war so ganz
anders als die Gewaltherrscher und
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