Der Tempel zu Jerusalem
Bemühungen um Vollkommenheit.
Hiram ergab
sich nicht in das widrige Geschick. Ein Meister, der aus dem Haus des Lebens
hinausgeworfen wurde, war seines Amtes unwürdig und gab die Arbeit auf. Wie
auch immer die Umstände, die Hindernisse waren, die Schuld war bei ihm zu
suchen. Er war dumm gewesen, hatte es nicht verstanden, Salomos Listen zu
vereiteln, der nach der Fertigstellung des Palastes einen Weg gefunden hatte,
sich eines lästigen Baumeisters zu entledigen.
Sein Geschick
zu ändern… ja, dazu war ein ägyptischer Schüler, der in die Geheimnisse
eingeführt worden war, in der Lage. Er verließ sich dabei auf die unsterbliche,
geistige Kraft, die ihm nichts und niemand genommen hatte. Er würde den Spiegel
seines Wesens neu ausrichten, damit die Sonnenstrahlen anders einfielen. So
konnte man seinen Lebenslauf verändern. Doch Hiram würde nicht von dem Weg
abgehen, der ihm gegen seinen Willen vorgezeichnet worden war. Es gab nicht nur
den Befehl des Pharaos und den Willen Salomos, sondern auch die
Herausforderung, die sich Hiram selbst gestellt hatte. Wie gern hätte er diesen
Tempel entstehen sehen, damit er das Wissen, das ihm vermacht worden war, in
ihn einbauen und beweisen konnte, daß seine Kunst allen Widrigkeiten trotzte.
Ausgerechnet
der Sabbat-Ritus und das Eingreifen haßerfüllter Menschen machten ihn
ohnmächtig, ja, wahrhaft stumm. Die Genugtuung, daß er floh, die verschaffte er
ihnen jedoch nicht.
Hiram
bereitete sich auf sein Erscheinen vor dem Gericht vor, als ein beglückter
Kaleb ihm ein Lamm brachte.
«Sieh dir das
an, mein Fürst! Es ist noch warm… ist gerade gestorben. Ein Gottesgeschenk!
Jetzt muß es nur noch mit roter Tusche an einer kaum sichtbaren Stelle
gekennzeichnet werden.»
«Warum das?»
«Ein Geschenk
des Himmels, wie ich schon gesagt habe! Kennzeichne es und überlasse mir den
Rest. Begnüge dich damit, am Leben zu bleiben.»
Kaleb wollte
sich nicht näher erklären. Als seine Bitte erhört worden war, lief er an einen
Ort, den nur er kannte, und drückte das Fell an sich, als ob es sich um einen
unschätzbaren Wert handelte.
Salomo hielt Audienz in Davids
altem Palast. Hiram in der neuen Gerichtshalle zu empfangen, das ging nicht an,
denn diesen Ort gab es vor der Einweihung des Tempels rechtlich gar nicht.
Der Tempel…
Wer würde den nach der Verurteilung des Baumeisters bauen? Wie würde sich die
Bruderschaft verhalten, die Hiram Vertrauen schenkte? Doch Hiram hatte das
Gesetz gebrochen, und Salomo konnte ihn nicht freisprechen, ohne die geheiligte
Ordnung zu leugnen, die Israel Leben schenkte. Verhielt es sich im Lande der
Weisheit, in Ägypten, nicht auch so, wo das himmlische Gesetz der Maat
unantastbare Grundlage der Kultur war?
Der König war
gezwungen, einen außergewöhnlichen Baumeister zu richten und zu bestrafen, ohne
den Jahwes Heiligtum ein Rohbau blieb. Die Lebensregel, die er wahren mußte,
zwang ihn, ein Werk zu zerstören, das seiner Herrschaft einen Sinn gegeben
hätte.
Als
Gefangener auf dem eigenen Thron, als unversöhnlicher Gegner dessen, der sein
Freund hätte sein sollen, fühlte sich Salomo von seiner Weisheit im Stich
gelassen. In welche Wüste, in welche unzugängliche Schlucht war sie geflohen?
Entfernte sie sich nicht mit jedem Augenblick weiter von Jerusalem und strebte
zurück ins Land der Pharaonen?
Der
Hohepriester war im Begriff, den König zu besiegen. Wenn man Hiram los war,
würde sich Salomo in seinen Felsenpalast zurückziehen und glauben, daß er über
ein Volk herrschte, von dem ihn mehr und mehr absonderte.
Zadok stand
neben dem Thron. Der Hohepriester hatte die rituellen Gewänder angelegt und
hielt sich betont an der Gesetzesrolle fest. Er erinnerte an die Bedeutung des
Sabbat. Im Namen der Religionsachtung forderte er Hirams Steinigung, denn der
hatte sich der Gotteslästerung und der Zersetzung schuldig gemacht. Salomo
durfte auf keinen Fall nachsichtig sein. Der Baumeister sollte mit dem Leben
für den Tod eines Gesellen zahlen, der seinem Befehl gehorcht hatte.
Zadok hatte
zahlreiche weltliche und geistliche Würdenträger zusammengerufen, die ihn unterstützten
und von dem Wunsch beseelt waren, Rache an einem fremdländischen Oberbaumeister
zu nehmen, der sie unablässig geringgeschätzt hatte. Keine Weisheit der Welt
würde seinem königlichen Beschützer noch zu Hilfe kommen.
Hiram strebte
zur Gerichtshalle. Er dachte nicht an den vorab bekannten Ausgang, sondern an
den Gesellen, der vor
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